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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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was nach der Thätigkeit des Hauses den Einzelnen in ihren Kreisen zu thun
obliegt.

Die Deutschen aber, welche in Preußen nach dem entschiedenen Wahlsiege
der liberalen Parteien sofort eine Aenderung des herrschenden Systems erwar¬
ten, erinnern wir an die eigenthümlichen Schicksale dieses Staates; denn eine
Besonderheit Preußens, durch weiche der Sieg des Liberalismus aufgehalten
worden ist, liegt in der Vergangenheit seiner liberalen Parteien. Erst seit
fünfzehn Jahren ist Preußen ein Verfassungsstaat. Und doch haben die Par¬
teien schon große Wandlungen durchgemacht und ein vergeltendes Schicksal er¬
fahren. Die Demokratie des Jahres 1848 verlor nach wenigen Monaten po¬
lnischer Thätigkeit die Majorität, Sympathien und Einfluß, weil sie in der
socialen Frage und in den Nationalitätsfragen die Gemeinschaft mit den un¬
gesunden Agitatoren der Straße nicht energisch genug von der Hand gewiesen
hatte. Die altliberale Partei verlor nach einem Kampf von zehn Jahren, kurz
nachdem sie zur Regierung gekommen war, Sympathien und Ministerium, weil
sie Pflicht und Politik einer parlamentarischen Partei verkannte und aus diplo¬
matischen Klugheitsrücksichten ihre Grundsätze, aus persönlicher Willfährigkeit
gegen die Wünsche des Herrschers populäre Parteiforderungen opferte. Eine
neue nationale Partei, gebildet ans dem größten Theil der Altliberalen und
der gemäßigten Demokratie, hat die Führung des Volkes übernommen, die
große Majorität des Landes ^steht treu zu ihr, aber ihre Mitglieder sind in der
großen Mehrzahl patriotische Männer aus kleineren Kreisen des Volkslebens,
nur wenige sind aus einer freien, sicher begründeten, und große Interessen um¬
fassenden heimischen Stellung in das Haus der Abgeordneten getreten, sehr
wenige haben die Muße und die Erfahrung, deren der Politiker in einem
großen Staate bedarf; mit einzelnen Anmahnen kann ihren Führern die Po¬
litik nichts Anderes sein, als eine höchst werthvolle Nebenbeschäftigung in einem
angespannten arbeitvollen Leben. Deshalb repräsentiren sie mit einer merkwür¬
digen Deutlichkeit und Vollständigkeit die Stimmungen und Forderungen ihrer
Wähler, ja einige von ihnen sind bereits Führer der öffentlichen Meinung. Aber sie
sind nicht reich an geschulten Talenten, und die Ersahrungen von Staatsmännern,
welche in großen Verhältnissen gearbeitet haben, fehlen ihnen noch zu sehr. Sie
sind, gewarnt durch die Fehler ihrer Vorgänger, sorglich bemüht, die Fühlung mit
ihren Wählern zu erhalten, ihre Agitation ist vorsichtig, zögernd, mehr be¬
müht Vertrauen zu bewahren und die oppositionellen Stimmungen darzustellen,
als planvoll zu einem Ziel zu leiten. Diese Partei aber ist es, die den gegen¬
wärtigen Kampf durchzufechten hat, auf ihr beruht gegenwärtig die Hoffnung
Preußens.

Es ist für den Deutschen außerhalb Preußens leicht, diese Verhältnisse zu über¬
sehen. Es sind aber gegebene Verhältnisse, und jeder Patriot muß sie bei seiner Nech-
'


Grenzboten IV. 1863. 24

was nach der Thätigkeit des Hauses den Einzelnen in ihren Kreisen zu thun
obliegt.

Die Deutschen aber, welche in Preußen nach dem entschiedenen Wahlsiege
der liberalen Parteien sofort eine Aenderung des herrschenden Systems erwar¬
ten, erinnern wir an die eigenthümlichen Schicksale dieses Staates; denn eine
Besonderheit Preußens, durch weiche der Sieg des Liberalismus aufgehalten
worden ist, liegt in der Vergangenheit seiner liberalen Parteien. Erst seit
fünfzehn Jahren ist Preußen ein Verfassungsstaat. Und doch haben die Par¬
teien schon große Wandlungen durchgemacht und ein vergeltendes Schicksal er¬
fahren. Die Demokratie des Jahres 1848 verlor nach wenigen Monaten po¬
lnischer Thätigkeit die Majorität, Sympathien und Einfluß, weil sie in der
socialen Frage und in den Nationalitätsfragen die Gemeinschaft mit den un¬
gesunden Agitatoren der Straße nicht energisch genug von der Hand gewiesen
hatte. Die altliberale Partei verlor nach einem Kampf von zehn Jahren, kurz
nachdem sie zur Regierung gekommen war, Sympathien und Ministerium, weil
sie Pflicht und Politik einer parlamentarischen Partei verkannte und aus diplo¬
matischen Klugheitsrücksichten ihre Grundsätze, aus persönlicher Willfährigkeit
gegen die Wünsche des Herrschers populäre Parteiforderungen opferte. Eine
neue nationale Partei, gebildet ans dem größten Theil der Altliberalen und
der gemäßigten Demokratie, hat die Führung des Volkes übernommen, die
große Majorität des Landes ^steht treu zu ihr, aber ihre Mitglieder sind in der
großen Mehrzahl patriotische Männer aus kleineren Kreisen des Volkslebens,
nur wenige sind aus einer freien, sicher begründeten, und große Interessen um¬
fassenden heimischen Stellung in das Haus der Abgeordneten getreten, sehr
wenige haben die Muße und die Erfahrung, deren der Politiker in einem
großen Staate bedarf; mit einzelnen Anmahnen kann ihren Führern die Po¬
litik nichts Anderes sein, als eine höchst werthvolle Nebenbeschäftigung in einem
angespannten arbeitvollen Leben. Deshalb repräsentiren sie mit einer merkwür¬
digen Deutlichkeit und Vollständigkeit die Stimmungen und Forderungen ihrer
Wähler, ja einige von ihnen sind bereits Führer der öffentlichen Meinung. Aber sie
sind nicht reich an geschulten Talenten, und die Ersahrungen von Staatsmännern,
welche in großen Verhältnissen gearbeitet haben, fehlen ihnen noch zu sehr. Sie
sind, gewarnt durch die Fehler ihrer Vorgänger, sorglich bemüht, die Fühlung mit
ihren Wählern zu erhalten, ihre Agitation ist vorsichtig, zögernd, mehr be¬
müht Vertrauen zu bewahren und die oppositionellen Stimmungen darzustellen,
als planvoll zu einem Ziel zu leiten. Diese Partei aber ist es, die den gegen¬
wärtigen Kampf durchzufechten hat, auf ihr beruht gegenwärtig die Hoffnung
Preußens.

Es ist für den Deutschen außerhalb Preußens leicht, diese Verhältnisse zu über¬
sehen. Es sind aber gegebene Verhältnisse, und jeder Patriot muß sie bei seiner Nech-
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Grenzboten IV. 1863. 24
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/193>, abgerufen am 15.01.2025.