Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.Und noch ein Anderes konnte die junge Dichterschule ihm nicht nachahmen Wir haben ein Recht so zuversichtlich zu urtheilen, denn über wenige Men¬ Und noch ein Anderes konnte die junge Dichterschule ihm nicht nachahmen Wir haben ein Recht so zuversichtlich zu urtheilen, denn über wenige Men¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115458"/> <p xml:id="ID_174"> Und noch ein Anderes konnte die junge Dichterschule ihm nicht nachahmen<lb/> — den Zauber seiner Persönlichkeit, die ebenso liebenswürdig und unwiderstehlich<lb/> fesselnd war, wie die Personen Heines und Bornes einem Jeden unausstehlich<lb/> erscheinen müssen, der den Muth bat, den Fabeln des literarischen Götzendienstes<lb/> zu widersprechen. Auch an Byron beobachten wir einen allen echten Größen<lb/> der Kunst gemeinsamen Charakterzug: er erscheint als Mensch im Leben vielfach<lb/> unreiner, aber auch weit reicher und vielgestaltiger als in seinen Gedichten.<lb/> Nur ein nahrhaft interessanter, geistvoller Mensch durfte eine so subjective<lb/> Weise der Dichtung sich erlauben, durfte mit so zudringlicher Gefallsucht der<lb/> Leserwelt jahrelang das ewig Gleiche und doch ewig Neue, sein eignes Ich bis<lb/> zu den aristokratisch kleinen Ohren und Füßen schildern. Nur Einer, der ein<lb/> Mann war, durfte das geheime Weh in seiner Brust in endlosen Klagen aus-<lb/> sprechen, die an jedem schwächeren Menschen weibisch erschienen wären. Auch<lb/> hier hat Goethe das entscheidende Wort gesprochen, als er die „dämonische Natur"<lb/> des englischen Dichters anerkannte; sie war reizvoll, räthselhaft genug, um schon<lb/> bei Byrons Lebzeiten eine Fülle von Märchen hervorzurufen, Sagen so wunder¬<lb/> sam phantastisch, daß der wirkliche Byron ihrem Scheingebilde gegenüber sast<lb/> als eine prosaische Natur erscheint. Selbst Goethe ließ sich von diesen Fabeln<lb/> bestechen. Die einfältige Schönheit seines Gemüths vermochte sich die Em¬<lb/> pfindung des leeren Weltschmerzes an einem edlen Menschen nicht vorzustellen.<lb/> Wenn er Byron nannte „stark angewohnt das tiefste Weh zu tragen", so<lb/> meinte er im Ernst, Byrons Gewissen sei belastet mit einer schweren Blut¬<lb/> schuld. Wir wissen jetzt/ daß an Alledem kein wahres Wort ist, und vieles<lb/> Wunderbare in Byrons Irrgänger, erklären wir einfach aus einem sehr mensch¬<lb/> lichen Motive, einer Eigenthümlichkeit freilich, die ein wahres Kreuz ist für<lb/> seine Kritiker und Biographen — aus dem Spleen, aus der unberechenbaren<lb/> Laune eines eigensinnigen, von dem Eindrucke des Augenblicks bestimmten<lb/> Menschen.</p><lb/> <p xml:id="ID_175" next="#ID_176"> Wir haben ein Recht so zuversichtlich zu urtheilen, denn über wenige Men¬<lb/> schen liegen die Acten so vollständig vor. Von klein auf wohnte und drängte<lb/> in ihm ein unersättlicher Trieb der Mittheilung. Was ihm jemals durch den<lb/> Kopf schwirrte und nicht Raum fand in den Gedichten, das ward nieder¬<lb/> geschrieben in Tagebüchern und Briefen: glänzende Gedanken und unreife Ein¬<lb/> fälle. Worte schwermüthiger Lebensweisheit und possenhafte Ungezogenheiten,<lb/> > Alles in tollem Durcheinander, wie ein belebtes Gespräch es hervorjagt. Nir-<lb/> gends eine Spur von Takt und Scham, aber auch nirgends ein gemachtes, ge¬<lb/> suchtes Wort. selbst jene Briefe aus Italien, die Byron schrieb mit dem<lb/> Bewußtsein, daß sie daheim durch tausend Hände gehen würden, sind von<lb/> einem natürlichen Witze, einer Wahrheit und Frische, welche selbst die mi߬<lb/> günstigsten Kritiker bezaubert haben. Wie liebenswürdig, wenn mitten unter</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0064]
Und noch ein Anderes konnte die junge Dichterschule ihm nicht nachahmen
— den Zauber seiner Persönlichkeit, die ebenso liebenswürdig und unwiderstehlich
fesselnd war, wie die Personen Heines und Bornes einem Jeden unausstehlich
erscheinen müssen, der den Muth bat, den Fabeln des literarischen Götzendienstes
zu widersprechen. Auch an Byron beobachten wir einen allen echten Größen
der Kunst gemeinsamen Charakterzug: er erscheint als Mensch im Leben vielfach
unreiner, aber auch weit reicher und vielgestaltiger als in seinen Gedichten.
Nur ein nahrhaft interessanter, geistvoller Mensch durfte eine so subjective
Weise der Dichtung sich erlauben, durfte mit so zudringlicher Gefallsucht der
Leserwelt jahrelang das ewig Gleiche und doch ewig Neue, sein eignes Ich bis
zu den aristokratisch kleinen Ohren und Füßen schildern. Nur Einer, der ein
Mann war, durfte das geheime Weh in seiner Brust in endlosen Klagen aus-
sprechen, die an jedem schwächeren Menschen weibisch erschienen wären. Auch
hier hat Goethe das entscheidende Wort gesprochen, als er die „dämonische Natur"
des englischen Dichters anerkannte; sie war reizvoll, räthselhaft genug, um schon
bei Byrons Lebzeiten eine Fülle von Märchen hervorzurufen, Sagen so wunder¬
sam phantastisch, daß der wirkliche Byron ihrem Scheingebilde gegenüber sast
als eine prosaische Natur erscheint. Selbst Goethe ließ sich von diesen Fabeln
bestechen. Die einfältige Schönheit seines Gemüths vermochte sich die Em¬
pfindung des leeren Weltschmerzes an einem edlen Menschen nicht vorzustellen.
Wenn er Byron nannte „stark angewohnt das tiefste Weh zu tragen", so
meinte er im Ernst, Byrons Gewissen sei belastet mit einer schweren Blut¬
schuld. Wir wissen jetzt/ daß an Alledem kein wahres Wort ist, und vieles
Wunderbare in Byrons Irrgänger, erklären wir einfach aus einem sehr mensch¬
lichen Motive, einer Eigenthümlichkeit freilich, die ein wahres Kreuz ist für
seine Kritiker und Biographen — aus dem Spleen, aus der unberechenbaren
Laune eines eigensinnigen, von dem Eindrucke des Augenblicks bestimmten
Menschen.
Wir haben ein Recht so zuversichtlich zu urtheilen, denn über wenige Men¬
schen liegen die Acten so vollständig vor. Von klein auf wohnte und drängte
in ihm ein unersättlicher Trieb der Mittheilung. Was ihm jemals durch den
Kopf schwirrte und nicht Raum fand in den Gedichten, das ward nieder¬
geschrieben in Tagebüchern und Briefen: glänzende Gedanken und unreife Ein¬
fälle. Worte schwermüthiger Lebensweisheit und possenhafte Ungezogenheiten,
> Alles in tollem Durcheinander, wie ein belebtes Gespräch es hervorjagt. Nir-
gends eine Spur von Takt und Scham, aber auch nirgends ein gemachtes, ge¬
suchtes Wort. selbst jene Briefe aus Italien, die Byron schrieb mit dem
Bewußtsein, daß sie daheim durch tausend Hände gehen würden, sind von
einem natürlichen Witze, einer Wahrheit und Frische, welche selbst die mi߬
günstigsten Kritiker bezaubert haben. Wie liebenswürdig, wenn mitten unter
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |