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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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empfinden. In der'Niobegruppc fällt das erste ganz weg, die Theilnahme wird
zum Mitleid, die Rührung zum Schrecken; denn alles Schöne, das in ihr erscheint,
trägt das Gefühl der Gefahr, die Ahnung der Ohnmacht, die Schmerzen des Unter¬
gangs der unvergleichlichen Mittclfigur der Gruppe ^ zu, welche in dem Kinde die rüh¬
rendste Anmuth, in der gebeugten Königin das erhabenste Pathos zeigt. Endlich
betritt der kühne Meister auch dasjenige Gebiet der Anmuth, welches vom sinnlichen
Reize berührt wird. Mit kecker Absichtlichkeit führt er die entblößten Reize der
Aphrodite dem Auge vor und weiß selbst die schlachtentrunkcne Amazone als eine
üppige Schöne darzustellen. Sehr groß ist Skopas in der Kunst der Komposition.
Die Meisterschaft der Marmorarbcit, welcher sich der Künstler ausschließlicher hingab
als die Uebrigen, wird in der Mänade am deutlichsten hervorgetreten sein. Die
älteren Proportionen hat Skopas im Wesentlichen nicht verlassen, jedoch etwas ver¬
längert, das Nackte in schwierigen Stellungen und den schwierigsten Vorwurf,
den weiblichen Körper, vollständig ausgeführt, die Gewandung, welche den verschie¬
densten Bewegungen des Körpers folgt, mit der kühnsten Sicherheit und völliger
Freiheit behandelt und hierin sich von dem Stile des Phidias entfernt.

"Die Alten," so schließt Urlichs sein Urtheil, "gaben Alkcnncncs den zweiten
Preis in der Kunst, und er verdiente ihn gewiß, insofern er von jeder Ausartung
und jedem Fehler frei den Weg seines Meisters gewandelt ist. Wenn aber neben
der Schönheit die Originalität, der Reichthum der Erfindung, die Mannigfaltigkeit
der Motive, endlich die Tiefe der Erregung in der Skulptur und die Tüchtigkeit des
Baumeisters in Betracht kommen, so möchte Skopas ihm den Rang streitig
machen."

Eine erste Beilage verbreitet sich über das Zeitalter des Dipönos und stylus,
welche, entgegengesetzte Ansichten Overbecks kurz abfertigend, nachweist, daß diese
Künstler während der Regierung des Kleisthenes in Sikyon geblüht haben, und daß
sie Ol. 50 dort einwanderten, Ol. 51, 3----4 von da nach Ambrakia gingen, nach
etwa sechsjähriger Abwesenheit zurückkehrten und bis gegen Ol. 58 im Peloponnes
thätig waren. Eine zweite Beilage handelt in fehl instructiver Weise von den bei¬
den (d. h. dem alten von Hcrostrat verbrannten und dem neuen) Tempeln von
Ephesus. Die artistische Beilage zeigt das Mausoleum von Halykarnaß nach Fcr-
gussvns und nach Pullans Herstellung.


Geschichte Friedrichs des Zweiten von Preußen genannt Frie¬
drich der Große von Thomas Carlyle. Deutsch von I. Neuberg. Dritter
Band, zweite Hälfte (Schluß). Berlin, 1863. Verlag der k. geheimen Oberhof-
buchdruckcrci.

Behandelt die Geschichte des großen Königs vom Mai 1741 bis zum August
1744, von Bcllcisles Besuch in Deutschland und dem Bruch der pragmatischen
Sanction bis zum Gewinn Ostfrieslands durch Preußen. Die Methode Carlyles,
wenn man hier von Methode sprechen darf, ist bekannt. Es ist eine Geschichte mit
Humoresken oder, wenn man will, in Humoresken, auf sehr gute Studien gegründet,
voll treffender Charakteristik und anschaulicher Schilderung, reich an tiefen Gedanken
und glänzenden Geistesblitzen, aber stets von der Stange abspringend, bald voraus-
uchmcnd, bald zurückgreifend, voll Ironie und Satire, in Ton und Stimmung oft
mehr ein geistreiches Plaudern, in welchem neben den ernsthaftesten Erörterungen


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empfinden. In der'Niobegruppc fällt das erste ganz weg, die Theilnahme wird
zum Mitleid, die Rührung zum Schrecken; denn alles Schöne, das in ihr erscheint,
trägt das Gefühl der Gefahr, die Ahnung der Ohnmacht, die Schmerzen des Unter¬
gangs der unvergleichlichen Mittclfigur der Gruppe ^ zu, welche in dem Kinde die rüh¬
rendste Anmuth, in der gebeugten Königin das erhabenste Pathos zeigt. Endlich
betritt der kühne Meister auch dasjenige Gebiet der Anmuth, welches vom sinnlichen
Reize berührt wird. Mit kecker Absichtlichkeit führt er die entblößten Reize der
Aphrodite dem Auge vor und weiß selbst die schlachtentrunkcne Amazone als eine
üppige Schöne darzustellen. Sehr groß ist Skopas in der Kunst der Komposition.
Die Meisterschaft der Marmorarbcit, welcher sich der Künstler ausschließlicher hingab
als die Uebrigen, wird in der Mänade am deutlichsten hervorgetreten sein. Die
älteren Proportionen hat Skopas im Wesentlichen nicht verlassen, jedoch etwas ver¬
längert, das Nackte in schwierigen Stellungen und den schwierigsten Vorwurf,
den weiblichen Körper, vollständig ausgeführt, die Gewandung, welche den verschie¬
densten Bewegungen des Körpers folgt, mit der kühnsten Sicherheit und völliger
Freiheit behandelt und hierin sich von dem Stile des Phidias entfernt.

„Die Alten," so schließt Urlichs sein Urtheil, „gaben Alkcnncncs den zweiten
Preis in der Kunst, und er verdiente ihn gewiß, insofern er von jeder Ausartung
und jedem Fehler frei den Weg seines Meisters gewandelt ist. Wenn aber neben
der Schönheit die Originalität, der Reichthum der Erfindung, die Mannigfaltigkeit
der Motive, endlich die Tiefe der Erregung in der Skulptur und die Tüchtigkeit des
Baumeisters in Betracht kommen, so möchte Skopas ihm den Rang streitig
machen."

Eine erste Beilage verbreitet sich über das Zeitalter des Dipönos und stylus,
welche, entgegengesetzte Ansichten Overbecks kurz abfertigend, nachweist, daß diese
Künstler während der Regierung des Kleisthenes in Sikyon geblüht haben, und daß
sie Ol. 50 dort einwanderten, Ol. 51, 3-—-4 von da nach Ambrakia gingen, nach
etwa sechsjähriger Abwesenheit zurückkehrten und bis gegen Ol. 58 im Peloponnes
thätig waren. Eine zweite Beilage handelt in fehl instructiver Weise von den bei¬
den (d. h. dem alten von Hcrostrat verbrannten und dem neuen) Tempeln von
Ephesus. Die artistische Beilage zeigt das Mausoleum von Halykarnaß nach Fcr-
gussvns und nach Pullans Herstellung.


Geschichte Friedrichs des Zweiten von Preußen genannt Frie¬
drich der Große von Thomas Carlyle. Deutsch von I. Neuberg. Dritter
Band, zweite Hälfte (Schluß). Berlin, 1863. Verlag der k. geheimen Oberhof-
buchdruckcrci.

Behandelt die Geschichte des großen Königs vom Mai 1741 bis zum August
1744, von Bcllcisles Besuch in Deutschland und dem Bruch der pragmatischen
Sanction bis zum Gewinn Ostfrieslands durch Preußen. Die Methode Carlyles,
wenn man hier von Methode sprechen darf, ist bekannt. Es ist eine Geschichte mit
Humoresken oder, wenn man will, in Humoresken, auf sehr gute Studien gegründet,
voll treffender Charakteristik und anschaulicher Schilderung, reich an tiefen Gedanken
und glänzenden Geistesblitzen, aber stets von der Stange abspringend, bald voraus-
uchmcnd, bald zurückgreifend, voll Ironie und Satire, in Ton und Stimmung oft
mehr ein geistreiches Plaudern, in welchem neben den ernsthaftesten Erörterungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/485>, abgerufen am 22.12.2024.