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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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der, im Abendland wie im Morgenland gleich gefürchtet, in Italien Occhio
cattivo, in Griechenland Kakommati, unter den Juden Ajin Nah, unter den
Arabern einfach "Naßr", d. i. der Blick heißt, und mit dessen Betrachtung wir
für jetzt schließen wollen.

In dem Aberglauben vom bösen Blick treffen zunächst zwei Vorstellun¬
gen zusammen, erstens die uralte Meinung, daß die Gottheit neidisch sei und
ein zu großes Menschenglück in Unglück verkehre, was später sich zu dem ethischen
Gesetz verklärte, nach welchem man sich vor Ueberhebung, vor stolzer Sicherheit
bei unwandelbar scheinenden Wohlergehen hüten sollte, und zweitens der Glaube,
daß der Neid von Menschen den Personen, auf welche er sich richte, oder den
Gegenständen, welche ihn veranlassen, auf übernatürliche, magische Weise schade,
und daß dieser Schade vorzüglich durch das scheel blickende Auge vermittelt
werde. Bekannt ist, daß dieser Aberglaube im Alterthum weit verbreitet war
und daß man sich durch zahlreiche Arten von Amuleten gegen das neidische
Auge und ebenso durch allerlei Vorsichtsmaßregeln gegen den Neid der Götter
zu schützen suchte"). Und beide Formeln desselben leben noch heute von der
Ostsee bis nach Jnnerafrika und von Spanien bis nach Persien als Erb¬
schaft fort.

Die Furcht vor dem Neid der Gottheit, die Scheu vor Ueberhebung spricht
sich in Deutschland auf die mannigfaltigste Weise aus. Höchst auffallender
Weise braucht der Schleswig-Holsteiner das sonst nur als Ausdruck starker Ver¬
neinung übliche "Gott bewahre!" als Ausruf der Verwunderung oder des stau¬
nenden Lobes. Mit Sorgfalt muß man sich in ganz Mitteldeutschland hüten,
sich seine Gesundheit zu "berufen", d. h. sich ihrer zu rühmen, ohne sofort ein
"unberufen" oder "unbeschrien" hinzuzusetzen. Besser thut man. sich derselben
gar nicht laut zu freuen und, über sie befragt, mit "so leidlich" oder "gestern
war's besser" zu antworten. Lobt ein Andrer sie oder einen andern Besitz, so
muß man ausspucken -- am besten dreimal --, sich mit der Hand über den
Mund fahren oder an etwas Anderes denken oder "Gott behüte" sagen. Ganz
besonders sorgsam aber muß man sich in Acht nehmen, das Gedeihen von Kin¬
dern zu bewundern, und sofort wird, wenn ein Unvorsichtiger sich dies zu
Schulden kommen läßt, ohne das unerläßliche "Gott behüte es" folgen zu
lassen, die Amme oder die Großmutter ihr "unbeschrien" vernehmen lassen oder
den Gegenzauber durch Spucken anwenden. Derselbe Brauch herrscht unter
den Slaven, und ganz ebenso verfahren in solchen Fällen die Italiener, ganz
ähnlich die Mohammedaner Syriens und Aegyptens. Durchaus unschicklich ist
es in Kairo, sein Erstaunen über ein schönes Kleid oder ein stattliches Pferd, das
einem Andern gehört, durch Worte wie "wunderschön" oder "allerliebst" laut



") Vgl. Grenzboten Jahrg. 1860, 2. Quartal, Seite 496 ff.
Grenzboten III. 1863. S5

der, im Abendland wie im Morgenland gleich gefürchtet, in Italien Occhio
cattivo, in Griechenland Kakommati, unter den Juden Ajin Nah, unter den
Arabern einfach „Naßr", d. i. der Blick heißt, und mit dessen Betrachtung wir
für jetzt schließen wollen.

In dem Aberglauben vom bösen Blick treffen zunächst zwei Vorstellun¬
gen zusammen, erstens die uralte Meinung, daß die Gottheit neidisch sei und
ein zu großes Menschenglück in Unglück verkehre, was später sich zu dem ethischen
Gesetz verklärte, nach welchem man sich vor Ueberhebung, vor stolzer Sicherheit
bei unwandelbar scheinenden Wohlergehen hüten sollte, und zweitens der Glaube,
daß der Neid von Menschen den Personen, auf welche er sich richte, oder den
Gegenständen, welche ihn veranlassen, auf übernatürliche, magische Weise schade,
und daß dieser Schade vorzüglich durch das scheel blickende Auge vermittelt
werde. Bekannt ist, daß dieser Aberglaube im Alterthum weit verbreitet war
und daß man sich durch zahlreiche Arten von Amuleten gegen das neidische
Auge und ebenso durch allerlei Vorsichtsmaßregeln gegen den Neid der Götter
zu schützen suchte"). Und beide Formeln desselben leben noch heute von der
Ostsee bis nach Jnnerafrika und von Spanien bis nach Persien als Erb¬
schaft fort.

Die Furcht vor dem Neid der Gottheit, die Scheu vor Ueberhebung spricht
sich in Deutschland auf die mannigfaltigste Weise aus. Höchst auffallender
Weise braucht der Schleswig-Holsteiner das sonst nur als Ausdruck starker Ver¬
neinung übliche „Gott bewahre!" als Ausruf der Verwunderung oder des stau¬
nenden Lobes. Mit Sorgfalt muß man sich in ganz Mitteldeutschland hüten,
sich seine Gesundheit zu „berufen", d. h. sich ihrer zu rühmen, ohne sofort ein
„unberufen" oder „unbeschrien" hinzuzusetzen. Besser thut man. sich derselben
gar nicht laut zu freuen und, über sie befragt, mit „so leidlich" oder „gestern
war's besser" zu antworten. Lobt ein Andrer sie oder einen andern Besitz, so
muß man ausspucken — am besten dreimal —, sich mit der Hand über den
Mund fahren oder an etwas Anderes denken oder „Gott behüte" sagen. Ganz
besonders sorgsam aber muß man sich in Acht nehmen, das Gedeihen von Kin¬
dern zu bewundern, und sofort wird, wenn ein Unvorsichtiger sich dies zu
Schulden kommen läßt, ohne das unerläßliche „Gott behüte es" folgen zu
lassen, die Amme oder die Großmutter ihr „unbeschrien" vernehmen lassen oder
den Gegenzauber durch Spucken anwenden. Derselbe Brauch herrscht unter
den Slaven, und ganz ebenso verfahren in solchen Fällen die Italiener, ganz
ähnlich die Mohammedaner Syriens und Aegyptens. Durchaus unschicklich ist
es in Kairo, sein Erstaunen über ein schönes Kleid oder ein stattliches Pferd, das
einem Andern gehört, durch Worte wie „wunderschön" oder „allerliebst" laut



") Vgl. Grenzboten Jahrg. 1860, 2. Quartal, Seite 496 ff.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/443>, abgerufen am 28.07.2024.