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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Der Sultan kann aber auch unaufgefordert sich und jedem von der Gesellschaft
einschenken, und keiner, der das erste Glas angenommen, darf die andern aus¬
schlagen."

Außerordentlich zahlreiche und zum Theil höchst überraschende Parallelen
bietet endlich eine Gegenüberstellung des abendländischen und des morgenlän¬
dischen Aberglaubens dar, und wir sind überzeugt, daß eine genauere Kenntniß
des letzteren noch unendlich viel mehr davon anführen könnte. Im Folgenden
theilen wir nur einige Beispiele von den vielen uns zu Gebot stehenden mit,
da es sich hier nicht darum handeln kann, gelehrte Vollständigkeit zu erreichen.

Die Juden im Orient und ihre altgläubigen Stammgenossen in Europa
wissen, daß viermal im Jahre, jedesmal beim Eintritt der neuen Jahreszeit,
ein giftiger Blutstropfen vom Himmel fällt. Schon der Verfasser des Buchs
"Abdurrahman", der 1421 schrieb, erzählt, daß er in einem alten Werke die
Warnung gelesen, an jenen Tagen (Hebräisch: Tekufoth) kein Flußwasser zu
trinken, da der aus den Wolken in dasselbe gefallene Tropfen den Leib schwellen
mache. Später galt die Warnung von jedem offnen Gefäß, in welchem sich
eine Flüssigkeit trinkbarer Art befand. Man hielt aber dafür, daß Eisen die
Schädlichkeit des Blutstropfens aufhebe, weshalb noch jetzt sorgsame jüdische
Hausfrauen an den Abenden vor den Tekufoth auf alle mit Vergiftung durch
denselben bedrohte Schüsseln, Gläser und Krüge ein Stück Eisen, einen Nagel
und dergl. legen.

Die Kabbalisten haben sich die Erklärung dieser Meinung sehr viel Schweiß
kosten lassen, aber was sie damit zu Tage gefördert haben, ist sehr wenig werth.
Einige geben für die räthselhafte, Zauber und andern Schaden abwehrende
Kraft des Eisens folgende wunderliche Lösung: die vier Buchstaben des hebräi¬
schen Wortes für Eisen B--r--s--l, Barsel zu lesen, sind die Anfangsbuch¬
staben von den Namen der vier Frauen des Patriarchen Jakob: Bilha, Rachel,
Silpa und Lea. Es sind also die Stammmutter, welche ihr Volk vor dem
schädlichen Einsinken des Blutstropfens in die betreffenden Gefäße bewahren.

Minder gesucht, aber ebenfalls sehr wenig glücklich erklärt ein anderer
Meister der Kabbala die Tekufoth. Im Frühling, im Monat Nisan, erinnert
die Tekufcch daran, daß einst alle Gewässer Aegyptens in Blut verwandelt wur¬
den. Die Sommer-Tekusah, im Monat Tamus, bedeutet, daß Moses gegen
das Gebot Adonais in der Wüste den Felsen schlug, worauf diesem Blut ent¬
strömte. Der Fall des giftigen rothen Tropfens im Herbstmonat Tischn ferner
soll das Andenken an eine Blutplage auffrischen, weiche (nach rabbinischer Le¬
gende) darüber entstanden wäre, daß Abraham seinen Sohn Jsaak schlachten
wollte. Die Winter-Tekufah endlich, im Monat Tebet, ist eine Thräne des
Himmels über die durch ihren Vater geopferte Tochter des Feldherrn Jephta.

Andere Kabbalisten, der Astrologie zugeneigt, meinen, daß vier Himmels-


Der Sultan kann aber auch unaufgefordert sich und jedem von der Gesellschaft
einschenken, und keiner, der das erste Glas angenommen, darf die andern aus¬
schlagen."

Außerordentlich zahlreiche und zum Theil höchst überraschende Parallelen
bietet endlich eine Gegenüberstellung des abendländischen und des morgenlän¬
dischen Aberglaubens dar, und wir sind überzeugt, daß eine genauere Kenntniß
des letzteren noch unendlich viel mehr davon anführen könnte. Im Folgenden
theilen wir nur einige Beispiele von den vielen uns zu Gebot stehenden mit,
da es sich hier nicht darum handeln kann, gelehrte Vollständigkeit zu erreichen.

Die Juden im Orient und ihre altgläubigen Stammgenossen in Europa
wissen, daß viermal im Jahre, jedesmal beim Eintritt der neuen Jahreszeit,
ein giftiger Blutstropfen vom Himmel fällt. Schon der Verfasser des Buchs
„Abdurrahman", der 1421 schrieb, erzählt, daß er in einem alten Werke die
Warnung gelesen, an jenen Tagen (Hebräisch: Tekufoth) kein Flußwasser zu
trinken, da der aus den Wolken in dasselbe gefallene Tropfen den Leib schwellen
mache. Später galt die Warnung von jedem offnen Gefäß, in welchem sich
eine Flüssigkeit trinkbarer Art befand. Man hielt aber dafür, daß Eisen die
Schädlichkeit des Blutstropfens aufhebe, weshalb noch jetzt sorgsame jüdische
Hausfrauen an den Abenden vor den Tekufoth auf alle mit Vergiftung durch
denselben bedrohte Schüsseln, Gläser und Krüge ein Stück Eisen, einen Nagel
und dergl. legen.

Die Kabbalisten haben sich die Erklärung dieser Meinung sehr viel Schweiß
kosten lassen, aber was sie damit zu Tage gefördert haben, ist sehr wenig werth.
Einige geben für die räthselhafte, Zauber und andern Schaden abwehrende
Kraft des Eisens folgende wunderliche Lösung: die vier Buchstaben des hebräi¬
schen Wortes für Eisen B—r—s—l, Barsel zu lesen, sind die Anfangsbuch¬
staben von den Namen der vier Frauen des Patriarchen Jakob: Bilha, Rachel,
Silpa und Lea. Es sind also die Stammmutter, welche ihr Volk vor dem
schädlichen Einsinken des Blutstropfens in die betreffenden Gefäße bewahren.

Minder gesucht, aber ebenfalls sehr wenig glücklich erklärt ein anderer
Meister der Kabbala die Tekufoth. Im Frühling, im Monat Nisan, erinnert
die Tekufcch daran, daß einst alle Gewässer Aegyptens in Blut verwandelt wur¬
den. Die Sommer-Tekusah, im Monat Tamus, bedeutet, daß Moses gegen
das Gebot Adonais in der Wüste den Felsen schlug, worauf diesem Blut ent¬
strömte. Der Fall des giftigen rothen Tropfens im Herbstmonat Tischn ferner
soll das Andenken an eine Blutplage auffrischen, weiche (nach rabbinischer Le¬
gende) darüber entstanden wäre, daß Abraham seinen Sohn Jsaak schlachten
wollte. Die Winter-Tekufah endlich, im Monat Tebet, ist eine Thräne des
Himmels über die durch ihren Vater geopferte Tochter des Feldherrn Jephta.

Andere Kabbalisten, der Astrologie zugeneigt, meinen, daß vier Himmels-


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[0436] Der Sultan kann aber auch unaufgefordert sich und jedem von der Gesellschaft einschenken, und keiner, der das erste Glas angenommen, darf die andern aus¬ schlagen." Außerordentlich zahlreiche und zum Theil höchst überraschende Parallelen bietet endlich eine Gegenüberstellung des abendländischen und des morgenlän¬ dischen Aberglaubens dar, und wir sind überzeugt, daß eine genauere Kenntniß des letzteren noch unendlich viel mehr davon anführen könnte. Im Folgenden theilen wir nur einige Beispiele von den vielen uns zu Gebot stehenden mit, da es sich hier nicht darum handeln kann, gelehrte Vollständigkeit zu erreichen. Die Juden im Orient und ihre altgläubigen Stammgenossen in Europa wissen, daß viermal im Jahre, jedesmal beim Eintritt der neuen Jahreszeit, ein giftiger Blutstropfen vom Himmel fällt. Schon der Verfasser des Buchs „Abdurrahman", der 1421 schrieb, erzählt, daß er in einem alten Werke die Warnung gelesen, an jenen Tagen (Hebräisch: Tekufoth) kein Flußwasser zu trinken, da der aus den Wolken in dasselbe gefallene Tropfen den Leib schwellen mache. Später galt die Warnung von jedem offnen Gefäß, in welchem sich eine Flüssigkeit trinkbarer Art befand. Man hielt aber dafür, daß Eisen die Schädlichkeit des Blutstropfens aufhebe, weshalb noch jetzt sorgsame jüdische Hausfrauen an den Abenden vor den Tekufoth auf alle mit Vergiftung durch denselben bedrohte Schüsseln, Gläser und Krüge ein Stück Eisen, einen Nagel und dergl. legen. Die Kabbalisten haben sich die Erklärung dieser Meinung sehr viel Schweiß kosten lassen, aber was sie damit zu Tage gefördert haben, ist sehr wenig werth. Einige geben für die räthselhafte, Zauber und andern Schaden abwehrende Kraft des Eisens folgende wunderliche Lösung: die vier Buchstaben des hebräi¬ schen Wortes für Eisen B—r—s—l, Barsel zu lesen, sind die Anfangsbuch¬ staben von den Namen der vier Frauen des Patriarchen Jakob: Bilha, Rachel, Silpa und Lea. Es sind also die Stammmutter, welche ihr Volk vor dem schädlichen Einsinken des Blutstropfens in die betreffenden Gefäße bewahren. Minder gesucht, aber ebenfalls sehr wenig glücklich erklärt ein anderer Meister der Kabbala die Tekufoth. Im Frühling, im Monat Nisan, erinnert die Tekufcch daran, daß einst alle Gewässer Aegyptens in Blut verwandelt wur¬ den. Die Sommer-Tekusah, im Monat Tamus, bedeutet, daß Moses gegen das Gebot Adonais in der Wüste den Felsen schlug, worauf diesem Blut ent¬ strömte. Der Fall des giftigen rothen Tropfens im Herbstmonat Tischn ferner soll das Andenken an eine Blutplage auffrischen, weiche (nach rabbinischer Le¬ gende) darüber entstanden wäre, daß Abraham seinen Sohn Jsaak schlachten wollte. Die Winter-Tekufah endlich, im Monat Tebet, ist eine Thräne des Himmels über die durch ihren Vater geopferte Tochter des Feldherrn Jephta. Andere Kabbalisten, der Astrologie zugeneigt, meinen, daß vier Himmels-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/436>, abgerufen am 22.12.2024.