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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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selten die äußerste Zurückhaltung geboten; dagegen mahnen die Verhältnisse
dringend, in innerer Sammlung an seiner Erstarkung zu arbeiten, alle Kräfte
auf die Einigung seiner Stämme zu einem Verfassungsstaate zu verwenden und
sich auf die Stunde vorzubereiten. wo es für seine eigenen Interessen einen ent¬
scheidenden Gang, einen Gang auf Tod und Leben wagen muß. Gewiß wird
der Gegner in diesem Kampfe Nußland, aber schwerlich Frankreich der Ver¬
bündete sein.

Diese Stunde wird aber schwerlich eher eintreten, als bis auch die euro¬
päische Gesammtpolitik von dem inneren Widerspruche sich befreit haben wird,
der sie unausgesetzt in falsche Bahnen drängt. Man sieht die größte Gefahr
für das europäische Gleichgewicht in einer Verbindung Frankreichs und Ru߬
lands. Jede Spannung zwischen diesen beiden Mächten wird daher als ein für
die Sicherheit Europas günstiges Ereigniß angesehen und von der europäischen
Diplomatie gesteigert. Offenbar aber verleiht diese Politik, indem sie auf die
eine der beiden Mächte drückt, der andern unvermeidlich ein bedenkliches Ueber-
gewicht und macht sie zum Führer der europäischen Action. Wie Rußland seine
dominirende Stellung in Europa lange Zeit hindurch der Furcht vor Frankreich
verdankt hat, so deutet Frankreich gegenwärtig die Furcht vor Rußland aus,
um seinerseits ganz Europa seinem Willen zu unterwerfen und Rußland mit
Hilfe Europas in einen Zustand zu versetzen, in dem es unbedingt sich zu
Frankreichs Verfügung stellen wird, wenn dies auf dem Punkt angelangt ist,
Pläne zu verfolgen, in denen es England zum Gegner haben muß und daher
des Beistandes Rußlands bedarf. Eine Politik, die auf die übermäßige Schwä¬
chung des einen der beiden Staaten ausgeht, ist daher sehr bedenklich, weil sie
dem andern stets ein drückendes Uebergewicht verschafft; sie ist ohne Aussicht
auf Erfolg, weil sie die Gefahr der Vereinigung beider, die sie verhindern will,
nur näher bringt. Es kommt daher weniger darauf an, die beiden Staaten
von einander zu trennen, als vielmehr darauf, Zustände vorzubereiten, in denen
Europa ihrer vereinigten Macht gewachsen ist. Dies war so lange unmöglich, als
Oestreichs erste Sorge war, in Italien seine Oberherrschaft aufrecht zu erhalten und
so lange es in jedem Conflicte fürchten mußte, daß es in den Ebenen der Lom¬
bardei seine Existenz gegen eine Allianz Frankreichs und der Revolution zu
vertheidigen haben würde. Erst die Gründung des Königreichs Italien hat
das mittlere Europa fähig gemacht, im Vereine mit England selbständig den
beiden von Osten und Westen aus den Continent bedrohenden Mächten gegen¬
überzutreten. Der Kampf des mittleren Europa gegen die vereinigte Macht
Rußlands und Frankreichs ist unvermeidlich, wenn er sich auch vielleicht noch
auf Jahre hinausschieben läßt, er muß ausbrechen, wenn die orientalische
Frage zum Austrag kommt. Für seinen Ausgang wird aber entscheidend sein,
ob in dieser größten europäischen Krisis, zu der die bisherigen Zerrüttungen


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selten die äußerste Zurückhaltung geboten; dagegen mahnen die Verhältnisse
dringend, in innerer Sammlung an seiner Erstarkung zu arbeiten, alle Kräfte
auf die Einigung seiner Stämme zu einem Verfassungsstaate zu verwenden und
sich auf die Stunde vorzubereiten. wo es für seine eigenen Interessen einen ent¬
scheidenden Gang, einen Gang auf Tod und Leben wagen muß. Gewiß wird
der Gegner in diesem Kampfe Nußland, aber schwerlich Frankreich der Ver¬
bündete sein.

Diese Stunde wird aber schwerlich eher eintreten, als bis auch die euro¬
päische Gesammtpolitik von dem inneren Widerspruche sich befreit haben wird,
der sie unausgesetzt in falsche Bahnen drängt. Man sieht die größte Gefahr
für das europäische Gleichgewicht in einer Verbindung Frankreichs und Ru߬
lands. Jede Spannung zwischen diesen beiden Mächten wird daher als ein für
die Sicherheit Europas günstiges Ereigniß angesehen und von der europäischen
Diplomatie gesteigert. Offenbar aber verleiht diese Politik, indem sie auf die
eine der beiden Mächte drückt, der andern unvermeidlich ein bedenkliches Ueber-
gewicht und macht sie zum Führer der europäischen Action. Wie Rußland seine
dominirende Stellung in Europa lange Zeit hindurch der Furcht vor Frankreich
verdankt hat, so deutet Frankreich gegenwärtig die Furcht vor Rußland aus,
um seinerseits ganz Europa seinem Willen zu unterwerfen und Rußland mit
Hilfe Europas in einen Zustand zu versetzen, in dem es unbedingt sich zu
Frankreichs Verfügung stellen wird, wenn dies auf dem Punkt angelangt ist,
Pläne zu verfolgen, in denen es England zum Gegner haben muß und daher
des Beistandes Rußlands bedarf. Eine Politik, die auf die übermäßige Schwä¬
chung des einen der beiden Staaten ausgeht, ist daher sehr bedenklich, weil sie
dem andern stets ein drückendes Uebergewicht verschafft; sie ist ohne Aussicht
auf Erfolg, weil sie die Gefahr der Vereinigung beider, die sie verhindern will,
nur näher bringt. Es kommt daher weniger darauf an, die beiden Staaten
von einander zu trennen, als vielmehr darauf, Zustände vorzubereiten, in denen
Europa ihrer vereinigten Macht gewachsen ist. Dies war so lange unmöglich, als
Oestreichs erste Sorge war, in Italien seine Oberherrschaft aufrecht zu erhalten und
so lange es in jedem Conflicte fürchten mußte, daß es in den Ebenen der Lom¬
bardei seine Existenz gegen eine Allianz Frankreichs und der Revolution zu
vertheidigen haben würde. Erst die Gründung des Königreichs Italien hat
das mittlere Europa fähig gemacht, im Vereine mit England selbständig den
beiden von Osten und Westen aus den Continent bedrohenden Mächten gegen¬
überzutreten. Der Kampf des mittleren Europa gegen die vereinigte Macht
Rußlands und Frankreichs ist unvermeidlich, wenn er sich auch vielleicht noch
auf Jahre hinausschieben läßt, er muß ausbrechen, wenn die orientalische
Frage zum Austrag kommt. Für seinen Ausgang wird aber entscheidend sein,
ob in dieser größten europäischen Krisis, zu der die bisherigen Zerrüttungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/259>, abgerufen am 01.09.2024.