Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Menschenrechten. Am Sonntag Morgen unter dem Glockengeläute war Zahltag.
Die Arbeiter erhielten die wenigen Groschen, die sie sauer verdient hatten;
dann aber wurden diejenigen, gegen welche eine oft nur kleine Beschwerde
vorlag, übers Strohbund gelegt und von zweien der Ihrigen, die froh waren,
üben zu können, was sie das vorige Mal erfuhren, gehauen, so lange deren
Kräfte reichten und zuletzt ohne Weiteres an den Zaun geworfen, um dort aus¬
zuklagen. Arier den Herren im Fort Winiary befindet sich Einer, de.r sein
Verlangen, solche Zustände hier einzubürgern, mit sechs Monaten Gefängniß
gebüßt hat. Und nun erst die Nichtachtung des Weibes und seiner Ehre beim
polnischen Edelmann. Schelten Sie darum Mieroslawski und seinen Anwalt,
Herrn Rolland, den Redacteur des Progres de Lyon, dessen merkwürdige Er¬
klärung Sie doch wohl kennen, nicht zu hart. Es ist etwas Wahres in ihren
Anklagen wider die Revolution und es kann jeder Zeit das Blatt drüben sich
wenden, so daß wir noch Zeugen galizischer Zustände an der nahen Grenze
werden. Der Haß des niedern Volkes wider den Adel wird nur durch die
Geistlichen mühsam niedergehalten, und jene Verbrüderung, die uns an
Kucharskis Sarge vorgespiegelt wurde, hat weder innerlich noch äußerlich
stattgefunden.

Gestern sind die Gefangenen vom Fort Winiary, 71 an Zahl, nach Berlin
abgeführt worden. Der Transport geschah unter starker Escorte und mit
äußerster Vorsicht. Der Extrazug, welcher,die Unglücklichen aufnehmen sollte,
wartete unterhalb des Bahnhofes auf sie, und so blieb denn auch Alles
ruhig. Man hatte nämlich einige Befürchtungen, es könnten Demonstrationen
oder Excesse stattfinden. Einen entfernten Grund zu solcher Erwartung bot die
Unruhe, mit der man in den letzten Tagen jede außerordentliche Bewegung
unserer Garnison ansah. Ob man aber eine wirkliche Berechtigung dazu hatte,
wage ich zu bezweifeln. In Bezug auf die gvstyner Affaire wenigstens hat
meine Vermuthung, daß an derselben kein Wort wahr sei, mich nicht betrogen.
Die posener Zeitung hat fünf Tage gebraucht, ehe sie sich dementirte. Es
liegt darin in der That ein ganz unbegreiflicher Leichtsinn, da eine solche
Nachricht nothwendigerweise beide Parteien hier aufs Aeußerste beunruhigen
mußte, und da es der Posener Zeitung eine Kleinigkeit gewesen wäre, durch
directe Anfrage bei der Behörde die Wahrheit zu erfahren. Auch die Geschichte
von der Gräfin Dalska war erfunden. Was nun die Posener Zeitung nach
der einen Seite hin sündigt, das fehlt die Ostdeutsche nach der anderen. Zur
Zeit' bekämpfen sich beide Blätter in Bezug auf den von der Posener empfohlenen
Belagerungszustand in wenig erquicklicher Weise. Den Schaden davon tragen
die deutschen Leser; der Grund aber für das gegenseitige Verhalten her beiden
Blätter liegt darin, daß die Provinz für zwei Blätter denn doch zu klein ist.
Die Posener Zeitung hat das Verdienst, jeder Zeit die Interessen der deutschen


Menschenrechten. Am Sonntag Morgen unter dem Glockengeläute war Zahltag.
Die Arbeiter erhielten die wenigen Groschen, die sie sauer verdient hatten;
dann aber wurden diejenigen, gegen welche eine oft nur kleine Beschwerde
vorlag, übers Strohbund gelegt und von zweien der Ihrigen, die froh waren,
üben zu können, was sie das vorige Mal erfuhren, gehauen, so lange deren
Kräfte reichten und zuletzt ohne Weiteres an den Zaun geworfen, um dort aus¬
zuklagen. Arier den Herren im Fort Winiary befindet sich Einer, de.r sein
Verlangen, solche Zustände hier einzubürgern, mit sechs Monaten Gefängniß
gebüßt hat. Und nun erst die Nichtachtung des Weibes und seiner Ehre beim
polnischen Edelmann. Schelten Sie darum Mieroslawski und seinen Anwalt,
Herrn Rolland, den Redacteur des Progres de Lyon, dessen merkwürdige Er¬
klärung Sie doch wohl kennen, nicht zu hart. Es ist etwas Wahres in ihren
Anklagen wider die Revolution und es kann jeder Zeit das Blatt drüben sich
wenden, so daß wir noch Zeugen galizischer Zustände an der nahen Grenze
werden. Der Haß des niedern Volkes wider den Adel wird nur durch die
Geistlichen mühsam niedergehalten, und jene Verbrüderung, die uns an
Kucharskis Sarge vorgespiegelt wurde, hat weder innerlich noch äußerlich
stattgefunden.

Gestern sind die Gefangenen vom Fort Winiary, 71 an Zahl, nach Berlin
abgeführt worden. Der Transport geschah unter starker Escorte und mit
äußerster Vorsicht. Der Extrazug, welcher,die Unglücklichen aufnehmen sollte,
wartete unterhalb des Bahnhofes auf sie, und so blieb denn auch Alles
ruhig. Man hatte nämlich einige Befürchtungen, es könnten Demonstrationen
oder Excesse stattfinden. Einen entfernten Grund zu solcher Erwartung bot die
Unruhe, mit der man in den letzten Tagen jede außerordentliche Bewegung
unserer Garnison ansah. Ob man aber eine wirkliche Berechtigung dazu hatte,
wage ich zu bezweifeln. In Bezug auf die gvstyner Affaire wenigstens hat
meine Vermuthung, daß an derselben kein Wort wahr sei, mich nicht betrogen.
Die posener Zeitung hat fünf Tage gebraucht, ehe sie sich dementirte. Es
liegt darin in der That ein ganz unbegreiflicher Leichtsinn, da eine solche
Nachricht nothwendigerweise beide Parteien hier aufs Aeußerste beunruhigen
mußte, und da es der Posener Zeitung eine Kleinigkeit gewesen wäre, durch
directe Anfrage bei der Behörde die Wahrheit zu erfahren. Auch die Geschichte
von der Gräfin Dalska war erfunden. Was nun die Posener Zeitung nach
der einen Seite hin sündigt, das fehlt die Ostdeutsche nach der anderen. Zur
Zeit' bekämpfen sich beide Blätter in Bezug auf den von der Posener empfohlenen
Belagerungszustand in wenig erquicklicher Weise. Den Schaden davon tragen
die deutschen Leser; der Grund aber für das gegenseitige Verhalten her beiden
Blätter liegt darin, daß die Provinz für zwei Blätter denn doch zu klein ist.
Die Posener Zeitung hat das Verdienst, jeder Zeit die Interessen der deutschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0238" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115628"/>
          <p xml:id="ID_649" prev="#ID_648"> Menschenrechten. Am Sonntag Morgen unter dem Glockengeläute war Zahltag.<lb/>
Die Arbeiter erhielten die wenigen Groschen, die sie sauer verdient hatten;<lb/>
dann aber wurden diejenigen, gegen welche eine oft nur kleine Beschwerde<lb/>
vorlag, übers Strohbund gelegt und von zweien der Ihrigen, die froh waren,<lb/>
üben zu können, was sie das vorige Mal erfuhren, gehauen, so lange deren<lb/>
Kräfte reichten und zuletzt ohne Weiteres an den Zaun geworfen, um dort aus¬<lb/>
zuklagen. Arier den Herren im Fort Winiary befindet sich Einer, de.r sein<lb/>
Verlangen, solche Zustände hier einzubürgern, mit sechs Monaten Gefängniß<lb/>
gebüßt hat. Und nun erst die Nichtachtung des Weibes und seiner Ehre beim<lb/>
polnischen Edelmann. Schelten Sie darum Mieroslawski und seinen Anwalt,<lb/>
Herrn Rolland, den Redacteur des Progres de Lyon, dessen merkwürdige Er¬<lb/>
klärung Sie doch wohl kennen, nicht zu hart. Es ist etwas Wahres in ihren<lb/>
Anklagen wider die Revolution und es kann jeder Zeit das Blatt drüben sich<lb/>
wenden, so daß wir noch Zeugen galizischer Zustände an der nahen Grenze<lb/>
werden. Der Haß des niedern Volkes wider den Adel wird nur durch die<lb/>
Geistlichen mühsam niedergehalten, und jene Verbrüderung, die uns an<lb/>
Kucharskis Sarge vorgespiegelt wurde, hat weder innerlich noch äußerlich<lb/>
stattgefunden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_650" next="#ID_651"> Gestern sind die Gefangenen vom Fort Winiary, 71 an Zahl, nach Berlin<lb/>
abgeführt worden. Der Transport geschah unter starker Escorte und mit<lb/>
äußerster Vorsicht. Der Extrazug, welcher,die Unglücklichen aufnehmen sollte,<lb/>
wartete unterhalb des Bahnhofes auf sie, und so blieb denn auch Alles<lb/>
ruhig. Man hatte nämlich einige Befürchtungen, es könnten Demonstrationen<lb/>
oder Excesse stattfinden. Einen entfernten Grund zu solcher Erwartung bot die<lb/>
Unruhe, mit der man in den letzten Tagen jede außerordentliche Bewegung<lb/>
unserer Garnison ansah. Ob man aber eine wirkliche Berechtigung dazu hatte,<lb/>
wage ich zu bezweifeln. In Bezug auf die gvstyner Affaire wenigstens hat<lb/>
meine Vermuthung, daß an derselben kein Wort wahr sei, mich nicht betrogen.<lb/>
Die posener Zeitung hat fünf Tage gebraucht, ehe sie sich dementirte. Es<lb/>
liegt darin in der That ein ganz unbegreiflicher Leichtsinn, da eine solche<lb/>
Nachricht nothwendigerweise beide Parteien hier aufs Aeußerste beunruhigen<lb/>
mußte, und da es der Posener Zeitung eine Kleinigkeit gewesen wäre, durch<lb/>
directe Anfrage bei der Behörde die Wahrheit zu erfahren. Auch die Geschichte<lb/>
von der Gräfin Dalska war erfunden. Was nun die Posener Zeitung nach<lb/>
der einen Seite hin sündigt, das fehlt die Ostdeutsche nach der anderen. Zur<lb/>
Zeit' bekämpfen sich beide Blätter in Bezug auf den von der Posener empfohlenen<lb/>
Belagerungszustand in wenig erquicklicher Weise. Den Schaden davon tragen<lb/>
die deutschen Leser; der Grund aber für das gegenseitige Verhalten her beiden<lb/>
Blätter liegt darin, daß die Provinz für zwei Blätter denn doch zu klein ist.<lb/>
Die Posener Zeitung hat das Verdienst, jeder Zeit die Interessen der deutschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0238] Menschenrechten. Am Sonntag Morgen unter dem Glockengeläute war Zahltag. Die Arbeiter erhielten die wenigen Groschen, die sie sauer verdient hatten; dann aber wurden diejenigen, gegen welche eine oft nur kleine Beschwerde vorlag, übers Strohbund gelegt und von zweien der Ihrigen, die froh waren, üben zu können, was sie das vorige Mal erfuhren, gehauen, so lange deren Kräfte reichten und zuletzt ohne Weiteres an den Zaun geworfen, um dort aus¬ zuklagen. Arier den Herren im Fort Winiary befindet sich Einer, de.r sein Verlangen, solche Zustände hier einzubürgern, mit sechs Monaten Gefängniß gebüßt hat. Und nun erst die Nichtachtung des Weibes und seiner Ehre beim polnischen Edelmann. Schelten Sie darum Mieroslawski und seinen Anwalt, Herrn Rolland, den Redacteur des Progres de Lyon, dessen merkwürdige Er¬ klärung Sie doch wohl kennen, nicht zu hart. Es ist etwas Wahres in ihren Anklagen wider die Revolution und es kann jeder Zeit das Blatt drüben sich wenden, so daß wir noch Zeugen galizischer Zustände an der nahen Grenze werden. Der Haß des niedern Volkes wider den Adel wird nur durch die Geistlichen mühsam niedergehalten, und jene Verbrüderung, die uns an Kucharskis Sarge vorgespiegelt wurde, hat weder innerlich noch äußerlich stattgefunden. Gestern sind die Gefangenen vom Fort Winiary, 71 an Zahl, nach Berlin abgeführt worden. Der Transport geschah unter starker Escorte und mit äußerster Vorsicht. Der Extrazug, welcher,die Unglücklichen aufnehmen sollte, wartete unterhalb des Bahnhofes auf sie, und so blieb denn auch Alles ruhig. Man hatte nämlich einige Befürchtungen, es könnten Demonstrationen oder Excesse stattfinden. Einen entfernten Grund zu solcher Erwartung bot die Unruhe, mit der man in den letzten Tagen jede außerordentliche Bewegung unserer Garnison ansah. Ob man aber eine wirkliche Berechtigung dazu hatte, wage ich zu bezweifeln. In Bezug auf die gvstyner Affaire wenigstens hat meine Vermuthung, daß an derselben kein Wort wahr sei, mich nicht betrogen. Die posener Zeitung hat fünf Tage gebraucht, ehe sie sich dementirte. Es liegt darin in der That ein ganz unbegreiflicher Leichtsinn, da eine solche Nachricht nothwendigerweise beide Parteien hier aufs Aeußerste beunruhigen mußte, und da es der Posener Zeitung eine Kleinigkeit gewesen wäre, durch directe Anfrage bei der Behörde die Wahrheit zu erfahren. Auch die Geschichte von der Gräfin Dalska war erfunden. Was nun die Posener Zeitung nach der einen Seite hin sündigt, das fehlt die Ostdeutsche nach der anderen. Zur Zeit' bekämpfen sich beide Blätter in Bezug auf den von der Posener empfohlenen Belagerungszustand in wenig erquicklicher Weise. Den Schaden davon tragen die deutschen Leser; der Grund aber für das gegenseitige Verhalten her beiden Blätter liegt darin, daß die Provinz für zwei Blätter denn doch zu klein ist. Die Posener Zeitung hat das Verdienst, jeder Zeit die Interessen der deutschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/238
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/238>, abgerufen am 22.12.2024.