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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Impulses von Osten her. die äußerliche Führerschaft der russischen Waffen im
großen Kriege, an welchem ja fast alle Bestandtheile des deutschen Reiches im
weitesten Sinne Antheil hatten, war darnach angethan, die Geister in der
neuangcrcgten slavischen Wcstmark Böhmen in wunderliche Gedanken zu ver¬
locken. Hatte man sich des fränkischen Eroberers entledigt und zwar durch
die slavische Großmacht, warum sollte man die Abrechnung unter den Völ¬
kern nicht fortsetzen, und zwar mit Heranziehung desselben Factors, wel¬
chen" man in den großen Ereignissen des europäischen Umschwunges eine
so übertriebene Bedeutung zuschrieb. Diese Betrachtungen verstockten sich zu
jenen panslavistischen Ideen, die mit dem "geheimnißvollen Zauber eines gro¬
ßen innern Widerspruchs" die Geister der Böhmen beunruhigten. Dieser
Widerspruch liegt in dem Wahne, daß die slavischen Völker, die sich seit Jahr¬
hunderten einander weit mehr entfremdet haben, als sie selber glauben wollen,
zum Theil grundverschieden an Culturstand und an politischem Entwicklungs-
stadium, wie sie sind, in einer compacten Vereinigung gedeihen könnten,
und daß bei solcher Vereinigung die innere politische Freiheit gefördert
würde. Diese aber würde nach Allem, was die Geschichte uns lehrt, viel¬
mehr geradezu unmöglich werden, da nur die zusammengeronnene Kraft des
grassesten Absolutismus die Einheit durchsetzen und aufrecht erhalten könnte. Es
geht diesen unglücklichen Gedanken wie den Mücken mit der Flamme, von der
sie nicht abzuhalten sind und wenn sie sich zehnmal daran verbrennen. Aber
dies ist am Ende ihre eigene Sache, und wir haben uns nicht drein zu mengen.
"Leicht bei einander wohnen die Gedanken, und sie finden auch immer
mehr an sich selber ihre Kritik. Aber hart im Raume stoßen sich die Sachen."

Dieser positiven Seite der slavischen Ideale entspricht eine negative, welche
uns Deutsche sehr nahe angeht. Seit dem Ausschwung der Jahre von 1813--1830
hat sich die böhmische Literatur gewöhnt, sich auf unsere Kosten patriotisch zu
geberden. Wir möchten mit diesem Ausdrucke nicht mißverstanden sein. Wer
wollte und könnte es verwerfen, daß man seit jener Erhebung der Geister in
Böhmen beflissen war, der literar.löcher Thätigkeit praktische Gesichtspunkte zu
geben, vermöge ihrer auf das Volk als Nation einzuwirken, die Nation zu
sammeln in dem Publicum der neuen Literatur. Rastlos, umfassend ist und
wird in diesem Sinne gearbeitet, eine böhmische Nation gleichsam rückwärts
neu zu schaffen, aus dem literarischen, Leben ein lebensfähiges politisches zu
organisiren. Noch läßt sich nicht sagen, daß der Homunculus gelungen wäre,
sondern es läßt sich vielmehr behaupten, daß er nicht gelingen kann, so lange
ein Ingredienz in der Retorte fehlt, das bisher principiell ausgeschlossen ist. Es
liegt in der Anerkennung und Nutzanwendung des eigenthümlichen Verhältnisses
zwischen Böhmen und Deutschen, wie es trotz aller Umnebelung und allem Mi߬
verständnisse zum eignen Schaden der Böhmen in der Geschichte sich heraus-


Impulses von Osten her. die äußerliche Führerschaft der russischen Waffen im
großen Kriege, an welchem ja fast alle Bestandtheile des deutschen Reiches im
weitesten Sinne Antheil hatten, war darnach angethan, die Geister in der
neuangcrcgten slavischen Wcstmark Böhmen in wunderliche Gedanken zu ver¬
locken. Hatte man sich des fränkischen Eroberers entledigt und zwar durch
die slavische Großmacht, warum sollte man die Abrechnung unter den Völ¬
kern nicht fortsetzen, und zwar mit Heranziehung desselben Factors, wel¬
chen« man in den großen Ereignissen des europäischen Umschwunges eine
so übertriebene Bedeutung zuschrieb. Diese Betrachtungen verstockten sich zu
jenen panslavistischen Ideen, die mit dem „geheimnißvollen Zauber eines gro¬
ßen innern Widerspruchs" die Geister der Böhmen beunruhigten. Dieser
Widerspruch liegt in dem Wahne, daß die slavischen Völker, die sich seit Jahr¬
hunderten einander weit mehr entfremdet haben, als sie selber glauben wollen,
zum Theil grundverschieden an Culturstand und an politischem Entwicklungs-
stadium, wie sie sind, in einer compacten Vereinigung gedeihen könnten,
und daß bei solcher Vereinigung die innere politische Freiheit gefördert
würde. Diese aber würde nach Allem, was die Geschichte uns lehrt, viel¬
mehr geradezu unmöglich werden, da nur die zusammengeronnene Kraft des
grassesten Absolutismus die Einheit durchsetzen und aufrecht erhalten könnte. Es
geht diesen unglücklichen Gedanken wie den Mücken mit der Flamme, von der
sie nicht abzuhalten sind und wenn sie sich zehnmal daran verbrennen. Aber
dies ist am Ende ihre eigene Sache, und wir haben uns nicht drein zu mengen.
„Leicht bei einander wohnen die Gedanken, und sie finden auch immer
mehr an sich selber ihre Kritik. Aber hart im Raume stoßen sich die Sachen."

Dieser positiven Seite der slavischen Ideale entspricht eine negative, welche
uns Deutsche sehr nahe angeht. Seit dem Ausschwung der Jahre von 1813—1830
hat sich die böhmische Literatur gewöhnt, sich auf unsere Kosten patriotisch zu
geberden. Wir möchten mit diesem Ausdrucke nicht mißverstanden sein. Wer
wollte und könnte es verwerfen, daß man seit jener Erhebung der Geister in
Böhmen beflissen war, der literar.löcher Thätigkeit praktische Gesichtspunkte zu
geben, vermöge ihrer auf das Volk als Nation einzuwirken, die Nation zu
sammeln in dem Publicum der neuen Literatur. Rastlos, umfassend ist und
wird in diesem Sinne gearbeitet, eine böhmische Nation gleichsam rückwärts
neu zu schaffen, aus dem literarischen, Leben ein lebensfähiges politisches zu
organisiren. Noch läßt sich nicht sagen, daß der Homunculus gelungen wäre,
sondern es läßt sich vielmehr behaupten, daß er nicht gelingen kann, so lange
ein Ingredienz in der Retorte fehlt, das bisher principiell ausgeschlossen ist. Es
liegt in der Anerkennung und Nutzanwendung des eigenthümlichen Verhältnisses
zwischen Böhmen und Deutschen, wie es trotz aller Umnebelung und allem Mi߬
verständnisse zum eignen Schaden der Böhmen in der Geschichte sich heraus-


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[0184] Impulses von Osten her. die äußerliche Führerschaft der russischen Waffen im großen Kriege, an welchem ja fast alle Bestandtheile des deutschen Reiches im weitesten Sinne Antheil hatten, war darnach angethan, die Geister in der neuangcrcgten slavischen Wcstmark Böhmen in wunderliche Gedanken zu ver¬ locken. Hatte man sich des fränkischen Eroberers entledigt und zwar durch die slavische Großmacht, warum sollte man die Abrechnung unter den Völ¬ kern nicht fortsetzen, und zwar mit Heranziehung desselben Factors, wel¬ chen« man in den großen Ereignissen des europäischen Umschwunges eine so übertriebene Bedeutung zuschrieb. Diese Betrachtungen verstockten sich zu jenen panslavistischen Ideen, die mit dem „geheimnißvollen Zauber eines gro¬ ßen innern Widerspruchs" die Geister der Böhmen beunruhigten. Dieser Widerspruch liegt in dem Wahne, daß die slavischen Völker, die sich seit Jahr¬ hunderten einander weit mehr entfremdet haben, als sie selber glauben wollen, zum Theil grundverschieden an Culturstand und an politischem Entwicklungs- stadium, wie sie sind, in einer compacten Vereinigung gedeihen könnten, und daß bei solcher Vereinigung die innere politische Freiheit gefördert würde. Diese aber würde nach Allem, was die Geschichte uns lehrt, viel¬ mehr geradezu unmöglich werden, da nur die zusammengeronnene Kraft des grassesten Absolutismus die Einheit durchsetzen und aufrecht erhalten könnte. Es geht diesen unglücklichen Gedanken wie den Mücken mit der Flamme, von der sie nicht abzuhalten sind und wenn sie sich zehnmal daran verbrennen. Aber dies ist am Ende ihre eigene Sache, und wir haben uns nicht drein zu mengen. „Leicht bei einander wohnen die Gedanken, und sie finden auch immer mehr an sich selber ihre Kritik. Aber hart im Raume stoßen sich die Sachen." Dieser positiven Seite der slavischen Ideale entspricht eine negative, welche uns Deutsche sehr nahe angeht. Seit dem Ausschwung der Jahre von 1813—1830 hat sich die böhmische Literatur gewöhnt, sich auf unsere Kosten patriotisch zu geberden. Wir möchten mit diesem Ausdrucke nicht mißverstanden sein. Wer wollte und könnte es verwerfen, daß man seit jener Erhebung der Geister in Böhmen beflissen war, der literar.löcher Thätigkeit praktische Gesichtspunkte zu geben, vermöge ihrer auf das Volk als Nation einzuwirken, die Nation zu sammeln in dem Publicum der neuen Literatur. Rastlos, umfassend ist und wird in diesem Sinne gearbeitet, eine böhmische Nation gleichsam rückwärts neu zu schaffen, aus dem literarischen, Leben ein lebensfähiges politisches zu organisiren. Noch läßt sich nicht sagen, daß der Homunculus gelungen wäre, sondern es läßt sich vielmehr behaupten, daß er nicht gelingen kann, so lange ein Ingredienz in der Retorte fehlt, das bisher principiell ausgeschlossen ist. Es liegt in der Anerkennung und Nutzanwendung des eigenthümlichen Verhältnisses zwischen Böhmen und Deutschen, wie es trotz aller Umnebelung und allem Mi߬ verständnisse zum eignen Schaden der Böhmen in der Geschichte sich heraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/184>, abgerufen am 27.07.2024.