Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.merci und Selbsttäuschung trat er in den neuen Kreis von Pflichten. Er gab Bis 1830 blieb Stockmar mit dem Prinzen in England, ein Aufenthalt, merci und Selbsttäuschung trat er in den neuen Kreis von Pflichten. Er gab Bis 1830 blieb Stockmar mit dem Prinzen in England, ein Aufenthalt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0174" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115566"/> <p xml:id="ID_453" prev="#ID_452"> merci und Selbsttäuschung trat er in den neuen Kreis von Pflichten. Er gab<lb/> die Pläne auf. welche er in der Stille für seine eigene Zukunft gesaßt hatte.<lb/> Auch er war, seit Jena, von der deutschen Sprachwissenschaft angezogen<lb/> worden, welche darüber arbeitete, Sprache, Sitte, Recht. Poesie der Völker als<lb/> gesetzmäßige Lebensäußerungen des Volksgeistes aufzufassen, und er trug sich<lb/> mit dem Plan, ein Wörterbuch der englischen Sprache zu sammeln, wie es von<lb/> solchem Standpunkt damals ein Deutscher anlegen konnte. Er nahm von<lb/> diesem Unternehmen und dem ganzen Kreise wissenschaftlicher Interessen, der ihm<lb/> damit zusammenhing, nicht ohne Resignation Abschied und widmete seine ganze<lb/> Zeit den praktischen Geschäften seines Fürsten. Die Stellung des Prinzen,<lb/> der als naturalisirter Engländer seinen Wohnsitz in England behielt, war nach<lb/> vielen Beziehungen eine schwierige und delikate und erforderte die volle Thätig¬<lb/> keit eines vertrauten Mannes. Der Prinz war deshalbbald veranlaßt, einen<lb/> andern Arzt zu nehmen und seinem Stockmar die Verwaltung seines Vermö¬<lb/> gens und die Functionen eines Hofmarschalls zu übertragen.</p><lb/> <p xml:id="ID_454"> Bis 1830 blieb Stockmar mit dem Prinzen in England, ein Aufenthalt,<lb/> der durch Reisen nach Frankreich, Italien und längeres Verweilen in Deutsch¬<lb/> land unterbrochen wurde'. Stockmar hatte zwar 1820 geheirathet und einen<lb/> Hausstand in Coburg gegründet, aber seine Thätigkeit für den Prinzen hielt<lb/> ihn doch den größten Theil des Jahres von da entfernt. Jene englische Zeit<lb/> von 1817 bis 1830 war entscheidend für' seine politische Bildung. Er ver¬<lb/> kehrte mit den hervorragenden Männern aller Parteien, vorzugsweise aber mit<lb/> den Liberalen und Radicalen. Er wurde gründlich mit dem Parteitreiben und<lb/> der dortigen Behandlung der Geschäfte bekannt. Während er aber die engli¬<lb/> sche nüchtern verständige und praktische Auffassung politischer Dinge sich an¬<lb/> eignete, verlor er dabei nichts von der Wärme, dem Wohlwollen und der Liebe,<lb/> die ihm eigen waren, und nicht die deutsche Eigenschaft, sein Handeln nach den<lb/> höchsten Gesichtspunkten einzurichten. Die hohe ehrfurchtsvolle Auffassung von<lb/> der Entwickelung des Staates aus dem Gemüth und den Bedürfnissen des<lb/> Volkes, seine Auffassung, daß das Leben einer Nation das Leben eines gewal¬<lb/> tigen individualisirten Organismus sei, befestigte sich ihm hier an den Fort¬<lb/> schritten eines großen Volkes innerhalb einer freien Verfassung. Er sah, wie<lb/> Neues wurde, wie in einem kräftig arbeitenden Staatskörper aus den egoisti¬<lb/> schen Zwecken der Parteien, aus persönlichen Intriguen, aus Einseitigkeit der<lb/> Bildung sich das Zeitgemäße und Vernünftige, durch die Anstrengungen Ein¬<lb/> zelner gehemmt, getrübt, gefördert, allmälig entwickelt; er erkannte den Werth<lb/> eines gesetzlich festen Verfassungslebens für das Heraustreiben solcher Neubil¬<lb/> dungen, und er wurde eingeweiht in alle Mittel und Wege, durch welche der<lb/> leitende Staatsmann auf sein Volk einwirkt, und durch welche er selbst in seiner<lb/> Arbeit beeinflußt wird.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0174]
merci und Selbsttäuschung trat er in den neuen Kreis von Pflichten. Er gab
die Pläne auf. welche er in der Stille für seine eigene Zukunft gesaßt hatte.
Auch er war, seit Jena, von der deutschen Sprachwissenschaft angezogen
worden, welche darüber arbeitete, Sprache, Sitte, Recht. Poesie der Völker als
gesetzmäßige Lebensäußerungen des Volksgeistes aufzufassen, und er trug sich
mit dem Plan, ein Wörterbuch der englischen Sprache zu sammeln, wie es von
solchem Standpunkt damals ein Deutscher anlegen konnte. Er nahm von
diesem Unternehmen und dem ganzen Kreise wissenschaftlicher Interessen, der ihm
damit zusammenhing, nicht ohne Resignation Abschied und widmete seine ganze
Zeit den praktischen Geschäften seines Fürsten. Die Stellung des Prinzen,
der als naturalisirter Engländer seinen Wohnsitz in England behielt, war nach
vielen Beziehungen eine schwierige und delikate und erforderte die volle Thätig¬
keit eines vertrauten Mannes. Der Prinz war deshalbbald veranlaßt, einen
andern Arzt zu nehmen und seinem Stockmar die Verwaltung seines Vermö¬
gens und die Functionen eines Hofmarschalls zu übertragen.
Bis 1830 blieb Stockmar mit dem Prinzen in England, ein Aufenthalt,
der durch Reisen nach Frankreich, Italien und längeres Verweilen in Deutsch¬
land unterbrochen wurde'. Stockmar hatte zwar 1820 geheirathet und einen
Hausstand in Coburg gegründet, aber seine Thätigkeit für den Prinzen hielt
ihn doch den größten Theil des Jahres von da entfernt. Jene englische Zeit
von 1817 bis 1830 war entscheidend für' seine politische Bildung. Er ver¬
kehrte mit den hervorragenden Männern aller Parteien, vorzugsweise aber mit
den Liberalen und Radicalen. Er wurde gründlich mit dem Parteitreiben und
der dortigen Behandlung der Geschäfte bekannt. Während er aber die engli¬
sche nüchtern verständige und praktische Auffassung politischer Dinge sich an¬
eignete, verlor er dabei nichts von der Wärme, dem Wohlwollen und der Liebe,
die ihm eigen waren, und nicht die deutsche Eigenschaft, sein Handeln nach den
höchsten Gesichtspunkten einzurichten. Die hohe ehrfurchtsvolle Auffassung von
der Entwickelung des Staates aus dem Gemüth und den Bedürfnissen des
Volkes, seine Auffassung, daß das Leben einer Nation das Leben eines gewal¬
tigen individualisirten Organismus sei, befestigte sich ihm hier an den Fort¬
schritten eines großen Volkes innerhalb einer freien Verfassung. Er sah, wie
Neues wurde, wie in einem kräftig arbeitenden Staatskörper aus den egoisti¬
schen Zwecken der Parteien, aus persönlichen Intriguen, aus Einseitigkeit der
Bildung sich das Zeitgemäße und Vernünftige, durch die Anstrengungen Ein¬
zelner gehemmt, getrübt, gefördert, allmälig entwickelt; er erkannte den Werth
eines gesetzlich festen Verfassungslebens für das Heraustreiben solcher Neubil¬
dungen, und er wurde eingeweiht in alle Mittel und Wege, durch welche der
leitende Staatsmann auf sein Volk einwirkt, und durch welche er selbst in seiner
Arbeit beeinflußt wird.
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