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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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halten zu den Dingen wie zu den Menschen gestaltet sich im geistigen und
sittlichen Verkehr der Völker, wie er im Austausch der Literatur stattfindet,
zum bestimmenden Wahlgesetz. Gleichwie die im Universum verbreiteten
Lichtstrahlen nur dann und insoweit zu gestaltenden Zwecken in Wirkung
treten, als sie sich in einem Brennpunkte sammeln lassen, welchen die Art
des Gegenstandes bestimmt, auf welchen gewirkt werden soll, so werden
auch nur diejenigen Gcistesproductionen zu Factoren unserer eigenen, welche
irgendwie in den sittlichen Kosmos unseres Lebens einschlagen. Das Andere
bleibt liegen und kann, wenn überhaupt, dann erst auf Umwegen und durch
Vermittlung an uns gelangen. Am deutlichsten und eigentlichsten müßte sich
dies der Natur der Sache nach in unserem Verhalten zu derjenigen Wissen¬
schaft zeigen, deren Gegenstand die Erforschung des Völkerlebens ist; aber
gerade in der Würdigung der Geschichtschreibung anderer Völker begegnen wir
bei uns in Deutschland einer eigenthümlichen Unsicherheit. Während unser
Volk in Dingen der exacten Wissenschaften sich eines feinen Tantes rühmen
darf, fehlt 'ihm nur zu oft der gesunde Jnstinct nach dieser Seite. Hier haftet
ihm noch etwas an von der vermeintlich kosmopolitischen Tendenz, auf eigene
Kosten gegen Andere gerecht sein zu wollen, welche leicht in die Gefahr verfällt,
die eigene heimische Waare geringer zu achten als die fremde.

Symptome dieser Sucht gerade in der Richtung auf die historische Literatur
lassen sich bis in unsere Tage her in Fülle aufzeigen. Es sei hier beispielsweise
nur an den Enthusiasmus erinnert, mit welchem seiner Zeit die Gvethebiographie
von Lewes begrüßt wurde. Damals meinte unser Publicum, erst der englische
Bearbeiter hätte uns den größten deutschen Dichter ganz verstehen und lieben
gelehrt. Und hat man nicht Miene gemacht, daran zu glauben, Thomas
Buckle, der geistreiche englische Materialist, von Arnold Rüge uns dargereicht,
sei der "Bako der Geschichtsforschung", die erst von seinem Werke über die
Civilisation in England schüchtern ihre Candioatur zur Aufnahme in den Or¬
den der Wissenschaften datiren könne? Solche Ueberschätzungen sind uns
namentlich den Engländern gegenüber oft passtrt, und nicht zufällig. Denn
diese leicht entzündliche Bewunderung geht unbewußt hervor aus dem unge-
messenen Respecte, mit welchem wir Deutschen die politische Entwickelung des
Bruderstammes überm Meere betrachten. Und hierin ist ohne Zweifel der
Grund dafür zu suchen, daß unserem Volke, welchem seine gesammte Geschichte
das Zeugniß gibt, daß es historischen Sinn in eminenten Grade besitzt, und
welches in Rücksicht auf die wissenschaftliche Geschichtsforschung unter den mo¬
dernen Völkern die erste Stelle einnimmt, dennoch der praktische Tact in der
Beurtheilung der historischen Literatur anderer Völker nur mangelhaft eigen
ist. Denn dieser Tact -- wir bezeichnen mit diesem Ausdrucke eben das instinctive
VerhaM des Volkes im Großen -- hängt aufs innigste zusammen mit der


halten zu den Dingen wie zu den Menschen gestaltet sich im geistigen und
sittlichen Verkehr der Völker, wie er im Austausch der Literatur stattfindet,
zum bestimmenden Wahlgesetz. Gleichwie die im Universum verbreiteten
Lichtstrahlen nur dann und insoweit zu gestaltenden Zwecken in Wirkung
treten, als sie sich in einem Brennpunkte sammeln lassen, welchen die Art
des Gegenstandes bestimmt, auf welchen gewirkt werden soll, so werden
auch nur diejenigen Gcistesproductionen zu Factoren unserer eigenen, welche
irgendwie in den sittlichen Kosmos unseres Lebens einschlagen. Das Andere
bleibt liegen und kann, wenn überhaupt, dann erst auf Umwegen und durch
Vermittlung an uns gelangen. Am deutlichsten und eigentlichsten müßte sich
dies der Natur der Sache nach in unserem Verhalten zu derjenigen Wissen¬
schaft zeigen, deren Gegenstand die Erforschung des Völkerlebens ist; aber
gerade in der Würdigung der Geschichtschreibung anderer Völker begegnen wir
bei uns in Deutschland einer eigenthümlichen Unsicherheit. Während unser
Volk in Dingen der exacten Wissenschaften sich eines feinen Tantes rühmen
darf, fehlt 'ihm nur zu oft der gesunde Jnstinct nach dieser Seite. Hier haftet
ihm noch etwas an von der vermeintlich kosmopolitischen Tendenz, auf eigene
Kosten gegen Andere gerecht sein zu wollen, welche leicht in die Gefahr verfällt,
die eigene heimische Waare geringer zu achten als die fremde.

Symptome dieser Sucht gerade in der Richtung auf die historische Literatur
lassen sich bis in unsere Tage her in Fülle aufzeigen. Es sei hier beispielsweise
nur an den Enthusiasmus erinnert, mit welchem seiner Zeit die Gvethebiographie
von Lewes begrüßt wurde. Damals meinte unser Publicum, erst der englische
Bearbeiter hätte uns den größten deutschen Dichter ganz verstehen und lieben
gelehrt. Und hat man nicht Miene gemacht, daran zu glauben, Thomas
Buckle, der geistreiche englische Materialist, von Arnold Rüge uns dargereicht,
sei der „Bako der Geschichtsforschung", die erst von seinem Werke über die
Civilisation in England schüchtern ihre Candioatur zur Aufnahme in den Or¬
den der Wissenschaften datiren könne? Solche Ueberschätzungen sind uns
namentlich den Engländern gegenüber oft passtrt, und nicht zufällig. Denn
diese leicht entzündliche Bewunderung geht unbewußt hervor aus dem unge-
messenen Respecte, mit welchem wir Deutschen die politische Entwickelung des
Bruderstammes überm Meere betrachten. Und hierin ist ohne Zweifel der
Grund dafür zu suchen, daß unserem Volke, welchem seine gesammte Geschichte
das Zeugniß gibt, daß es historischen Sinn in eminenten Grade besitzt, und
welches in Rücksicht auf die wissenschaftliche Geschichtsforschung unter den mo¬
dernen Völkern die erste Stelle einnimmt, dennoch der praktische Tact in der
Beurtheilung der historischen Literatur anderer Völker nur mangelhaft eigen
ist. Denn dieser Tact — wir bezeichnen mit diesem Ausdrucke eben das instinctive
VerhaM des Volkes im Großen — hängt aufs innigste zusammen mit der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/160>, abgerufen am 01.09.2024.