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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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fassungSumsturzeS eingeweiht war und bei denselben geholfen hat? Herr
v. Stiernberg will die Verfassung wieder herstellen; derselbe Herr v. Stiernberg,
von dem noch jüngst in der Kasseler Zeitung ein Inserat zu lesen war, worin
die 1860er Verfassung als die allein rechtmäßige und zuträgliche bezeichnet, die
Herstellung der 1831 er Verfassung aber als eine Unmöglichkeit hingestellt wurde?
Und die Justiz soll Herr^ Pfeiffer verwalten. der getreue Diener Ab6es. das ein-
zige Obergerichtsmitglied zu Rotenburg, welches im Jahr 1350 seine ver¬
fassungsmäßige Schuldigkeit nicht gethan hat? Und Herr v. Osterhausen Kriegs¬
minister -- er, der damals seinen Verfassungseid als untergeordnet betrachtete
und dafür mit einem Orden belohnt wurde? Wirklich! Das also wären die
Männer, in deren Hand die Wiederaufrichtung unseres Rechts gelegt werden
soll?" Solche und noch viel bedenklichere Reden waren an allen Straßenecken
zu hören. Der 21. Juni verlief im Uebrigen ruhig, und der 22. Juni, ein
Sonntag, kam heran. Ueberall sah man Leute, welche das Geschehene lebhast
besprachen, und überall hörte man die Frage: was wird jetzt Preußen thun?

So kam der Nachmittag, und mit ihm die erste Nachricht: "die Preußen
marschiren." Der Telegraph arbeitete wie rasend. Er brachte von allen Seiten
die Bestätigung, daß die preußischen Truppen massenhaft in Bewegung gesetzt
seien, vom Rhein, aus Westphalen, von Erfurt, vom Eichsfeld. Dabei muß
man sich erinnern, daß Kassel von den Grenjen Westphalens und des Eichs-
feldes in einem Tagemarsch erreicht werden kann, auch ohne Eisenbahnverbindung.
Die Bevölkerung gerieth in eine summende Bewegung. Im Palais soll die
Verwirrung grenzenlos gewesen sein. Die Insassen, Adjutanten, Minister, La¬
kaien, Gendarmen :c. Alles rennt in voller Bestürzung durch einander. Ordres,
Einpacken, neue Meldungen, neue Anordnungen folgen die ganze Nacht. Es
wird glaubhaft versichert, die Aufregung habe sich an gewisser Stelle in einer
körperlichen Affection mit denjenigen Symptomen geäußert welche plötzlicher
Schreck zuweilen veranlaßt.

Jetzt ward auch das schon Tags zuvor von den Ministern in Berathung
genommene Manifest hervorgeholt und sofort in die Druckerei gegeben. Noch
spät am Abend mußten Polizeidiener, Nachtwächter :c. die nassen Abzüge in
den öffentlichen Localen verbreiten, um die wachsende Aufregung zu beschwich¬
tigen. Diese Abdrücke waren vom 22. Juni datirt. Ueberhaupt-hat jenes
Manifest einen eigenthümlichen Entstehungsproceß durchgemacht. Dasselbe war
von den liberalen Ministercandidaten -- Zuschlag und Wiegand -- verfaßt und
mit dem Programm dieser Männer dem Kurfürsten vorgelegt. Diesen Entwurf
haben die neuen Minister adoptirt und lediglich einige Aenderungen mit Blei¬
stift bewerkstelligt. Einzelne Paragraphen sind weggefallen, andere durch Aus¬
lassungen verstümmelt. Das ist nun die landesherrliche Verkündigung vom
21. Juni; denn die späteren officiellen Abdrücke erhielten dieses Datum, wie


fassungSumsturzeS eingeweiht war und bei denselben geholfen hat? Herr
v. Stiernberg will die Verfassung wieder herstellen; derselbe Herr v. Stiernberg,
von dem noch jüngst in der Kasseler Zeitung ein Inserat zu lesen war, worin
die 1860er Verfassung als die allein rechtmäßige und zuträgliche bezeichnet, die
Herstellung der 1831 er Verfassung aber als eine Unmöglichkeit hingestellt wurde?
Und die Justiz soll Herr^ Pfeiffer verwalten. der getreue Diener Ab6es. das ein-
zige Obergerichtsmitglied zu Rotenburg, welches im Jahr 1350 seine ver¬
fassungsmäßige Schuldigkeit nicht gethan hat? Und Herr v. Osterhausen Kriegs¬
minister — er, der damals seinen Verfassungseid als untergeordnet betrachtete
und dafür mit einem Orden belohnt wurde? Wirklich! Das also wären die
Männer, in deren Hand die Wiederaufrichtung unseres Rechts gelegt werden
soll?" Solche und noch viel bedenklichere Reden waren an allen Straßenecken
zu hören. Der 21. Juni verlief im Uebrigen ruhig, und der 22. Juni, ein
Sonntag, kam heran. Ueberall sah man Leute, welche das Geschehene lebhast
besprachen, und überall hörte man die Frage: was wird jetzt Preußen thun?

So kam der Nachmittag, und mit ihm die erste Nachricht: „die Preußen
marschiren." Der Telegraph arbeitete wie rasend. Er brachte von allen Seiten
die Bestätigung, daß die preußischen Truppen massenhaft in Bewegung gesetzt
seien, vom Rhein, aus Westphalen, von Erfurt, vom Eichsfeld. Dabei muß
man sich erinnern, daß Kassel von den Grenjen Westphalens und des Eichs-
feldes in einem Tagemarsch erreicht werden kann, auch ohne Eisenbahnverbindung.
Die Bevölkerung gerieth in eine summende Bewegung. Im Palais soll die
Verwirrung grenzenlos gewesen sein. Die Insassen, Adjutanten, Minister, La¬
kaien, Gendarmen :c. Alles rennt in voller Bestürzung durch einander. Ordres,
Einpacken, neue Meldungen, neue Anordnungen folgen die ganze Nacht. Es
wird glaubhaft versichert, die Aufregung habe sich an gewisser Stelle in einer
körperlichen Affection mit denjenigen Symptomen geäußert welche plötzlicher
Schreck zuweilen veranlaßt.

Jetzt ward auch das schon Tags zuvor von den Ministern in Berathung
genommene Manifest hervorgeholt und sofort in die Druckerei gegeben. Noch
spät am Abend mußten Polizeidiener, Nachtwächter :c. die nassen Abzüge in
den öffentlichen Localen verbreiten, um die wachsende Aufregung zu beschwich¬
tigen. Diese Abdrücke waren vom 22. Juni datirt. Ueberhaupt-hat jenes
Manifest einen eigenthümlichen Entstehungsproceß durchgemacht. Dasselbe war
von den liberalen Ministercandidaten — Zuschlag und Wiegand — verfaßt und
mit dem Programm dieser Männer dem Kurfürsten vorgelegt. Diesen Entwurf
haben die neuen Minister adoptirt und lediglich einige Aenderungen mit Blei¬
stift bewerkstelligt. Einzelne Paragraphen sind weggefallen, andere durch Aus¬
lassungen verstümmelt. Das ist nun die landesherrliche Verkündigung vom
21. Juni; denn die späteren officiellen Abdrücke erhielten dieses Datum, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/376>, abgerufen am 19.10.2024.