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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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"gewöhnlich mehre Redner zu gleicher Zeit und nicht immer sofort alle gehört"
ihre Ansichten aussprächen. Das sei aber nur Schein, der wahre Vortheil ver¬
bleibe bei der mecklenburgischen Berathungsart. Hier kämen meistens kunstlose
Vortrage zu Raum; es sei also nicht zu befürchten, daß Jemand durch Rcdner-
tunste werde bestochen werden. Auch sei zu befürchten, daß, wenn förmliche
und kunstgerechte Reden verlangt würden, manche einsichtsvolle Landstände, die
euch nicht zu leisten vermochten, jetzt aber oft durch wenige kunstlose Worte
sehr nützlich auf die Beschlüsse der Versammlung einwirkten, aus Bescheidenheit
oder Mangel an Fähigkeit schweigen und so ihre Wirksamkeit dem gemeinen Wohl
entziehen mochten. Noch bis auf diese Stunde besteht die "heilige" Gewohnheit, daß
so, viele Redner, als nur immer wollen und sich -- wenn auch nur hei ihrem
Nebenmann -- Gehör zu verschaffen wissen, gleichzeitig ihre heilsamen Rathschläge
für das Landeswohl in Worte fassen.

Daß bei solcher Verfassung und Vertretung des Landes fast alle Einrich¬
tungen desselben um mindestens ein Jahrhundert hinter dem Entwickelungsstande
der meisten übrigen deutschen Staaten haben zurückbleiben müssen, ist selbstver¬
ständlich. Eine Gemeindeverfassung besteht nur in den Städten und hat auch
hier eine sehr unzulängliche Gestalt. Auf dem Lande fehlt es ganz an einer
solchen. Hier concentriren sich alle communalen Rechte in den Personen der
wenigen Grundbesitzer (des Landesherrn, der Ritterschaft und einiger Stiftungen
und Communen), und nur an den Pflichten hat die sonstige Bevölkerung Theil. Der
Landbau und die gewerbliche Thätigkeit stehen unter den Hemmungen der agra¬
rischen Institutionen, der Fideicomnüß-und der Lebensgesetze, des Zunftwesens
und der damit 'verbundenen Bann- und Zwangsrechte, der Einrichtungen in
Bezug auf das Niederlassungsrecht und der den Ausländer vor dem Inländer
begünstigenden Steuer- und Zvllvcrhältnissc. Die Rechtspflege mit den Patri-
mvnialgerichten, mit dem czimirtcn Gerichtsstände, mit dem Zerrbild eines
öffentlichen und mündlichen Verfahrens im Criminalproceß, das Pvlizeiwesi n,
das Armenwesen. das Schulwesen, das ohne wirkliche eigene Organe ganz es
von der jedes Mal herrschenden Partei abhängige Kirchenwesen-- Alles, worm
man blickt, ringt mit einander um den Preis der Verkommenheit und Nefvrm-
bedürftigkeit. Nur diejenige politische und kirchliche Partei verkennt dies oder
läugnet es wenigstens, deren Verdrängung von der Herrschaft freilich als
die erste Wirkung der Rückkehr Mecklenburgs zu seinem noch fortwährend zu
O Recht bestehenden Staatsgrundgesetz sich herausstellen würde.




Grenzboten IV. 18K2.

„gewöhnlich mehre Redner zu gleicher Zeit und nicht immer sofort alle gehört"
ihre Ansichten aussprächen. Das sei aber nur Schein, der wahre Vortheil ver¬
bleibe bei der mecklenburgischen Berathungsart. Hier kämen meistens kunstlose
Vortrage zu Raum; es sei also nicht zu befürchten, daß Jemand durch Rcdner-
tunste werde bestochen werden. Auch sei zu befürchten, daß, wenn förmliche
und kunstgerechte Reden verlangt würden, manche einsichtsvolle Landstände, die
euch nicht zu leisten vermochten, jetzt aber oft durch wenige kunstlose Worte
sehr nützlich auf die Beschlüsse der Versammlung einwirkten, aus Bescheidenheit
oder Mangel an Fähigkeit schweigen und so ihre Wirksamkeit dem gemeinen Wohl
entziehen mochten. Noch bis auf diese Stunde besteht die „heilige" Gewohnheit, daß
so, viele Redner, als nur immer wollen und sich — wenn auch nur hei ihrem
Nebenmann — Gehör zu verschaffen wissen, gleichzeitig ihre heilsamen Rathschläge
für das Landeswohl in Worte fassen.

Daß bei solcher Verfassung und Vertretung des Landes fast alle Einrich¬
tungen desselben um mindestens ein Jahrhundert hinter dem Entwickelungsstande
der meisten übrigen deutschen Staaten haben zurückbleiben müssen, ist selbstver¬
ständlich. Eine Gemeindeverfassung besteht nur in den Städten und hat auch
hier eine sehr unzulängliche Gestalt. Auf dem Lande fehlt es ganz an einer
solchen. Hier concentriren sich alle communalen Rechte in den Personen der
wenigen Grundbesitzer (des Landesherrn, der Ritterschaft und einiger Stiftungen
und Communen), und nur an den Pflichten hat die sonstige Bevölkerung Theil. Der
Landbau und die gewerbliche Thätigkeit stehen unter den Hemmungen der agra¬
rischen Institutionen, der Fideicomnüß-und der Lebensgesetze, des Zunftwesens
und der damit 'verbundenen Bann- und Zwangsrechte, der Einrichtungen in
Bezug auf das Niederlassungsrecht und der den Ausländer vor dem Inländer
begünstigenden Steuer- und Zvllvcrhältnissc. Die Rechtspflege mit den Patri-
mvnialgerichten, mit dem czimirtcn Gerichtsstände, mit dem Zerrbild eines
öffentlichen und mündlichen Verfahrens im Criminalproceß, das Pvlizeiwesi n,
das Armenwesen. das Schulwesen, das ohne wirkliche eigene Organe ganz es
von der jedes Mal herrschenden Partei abhängige Kirchenwesen— Alles, worm
man blickt, ringt mit einander um den Preis der Verkommenheit und Nefvrm-
bedürftigkeit. Nur diejenige politische und kirchliche Partei verkennt dies oder
läugnet es wenigstens, deren Verdrängung von der Herrschaft freilich als
die erste Wirkung der Rückkehr Mecklenburgs zu seinem noch fortwährend zu
O Recht bestehenden Staatsgrundgesetz sich herausstellen würde.




Grenzboten IV. 18K2.
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[0341] „gewöhnlich mehre Redner zu gleicher Zeit und nicht immer sofort alle gehört" ihre Ansichten aussprächen. Das sei aber nur Schein, der wahre Vortheil ver¬ bleibe bei der mecklenburgischen Berathungsart. Hier kämen meistens kunstlose Vortrage zu Raum; es sei also nicht zu befürchten, daß Jemand durch Rcdner- tunste werde bestochen werden. Auch sei zu befürchten, daß, wenn förmliche und kunstgerechte Reden verlangt würden, manche einsichtsvolle Landstände, die euch nicht zu leisten vermochten, jetzt aber oft durch wenige kunstlose Worte sehr nützlich auf die Beschlüsse der Versammlung einwirkten, aus Bescheidenheit oder Mangel an Fähigkeit schweigen und so ihre Wirksamkeit dem gemeinen Wohl entziehen mochten. Noch bis auf diese Stunde besteht die „heilige" Gewohnheit, daß so, viele Redner, als nur immer wollen und sich — wenn auch nur hei ihrem Nebenmann — Gehör zu verschaffen wissen, gleichzeitig ihre heilsamen Rathschläge für das Landeswohl in Worte fassen. Daß bei solcher Verfassung und Vertretung des Landes fast alle Einrich¬ tungen desselben um mindestens ein Jahrhundert hinter dem Entwickelungsstande der meisten übrigen deutschen Staaten haben zurückbleiben müssen, ist selbstver¬ ständlich. Eine Gemeindeverfassung besteht nur in den Städten und hat auch hier eine sehr unzulängliche Gestalt. Auf dem Lande fehlt es ganz an einer solchen. Hier concentriren sich alle communalen Rechte in den Personen der wenigen Grundbesitzer (des Landesherrn, der Ritterschaft und einiger Stiftungen und Communen), und nur an den Pflichten hat die sonstige Bevölkerung Theil. Der Landbau und die gewerbliche Thätigkeit stehen unter den Hemmungen der agra¬ rischen Institutionen, der Fideicomnüß-und der Lebensgesetze, des Zunftwesens und der damit 'verbundenen Bann- und Zwangsrechte, der Einrichtungen in Bezug auf das Niederlassungsrecht und der den Ausländer vor dem Inländer begünstigenden Steuer- und Zvllvcrhältnissc. Die Rechtspflege mit den Patri- mvnialgerichten, mit dem czimirtcn Gerichtsstände, mit dem Zerrbild eines öffentlichen und mündlichen Verfahrens im Criminalproceß, das Pvlizeiwesi n, das Armenwesen. das Schulwesen, das ohne wirkliche eigene Organe ganz es von der jedes Mal herrschenden Partei abhängige Kirchenwesen— Alles, worm man blickt, ringt mit einander um den Preis der Verkommenheit und Nefvrm- bedürftigkeit. Nur diejenige politische und kirchliche Partei verkennt dies oder läugnet es wenigstens, deren Verdrängung von der Herrschaft freilich als die erste Wirkung der Rückkehr Mecklenburgs zu seinem noch fortwährend zu O Recht bestehenden Staatsgrundgesetz sich herausstellen würde. Grenzboten IV. 18K2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/341>, abgerufen am 20.10.2024.