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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Stimmungen. Gesetzen und phantastischen Träumereien, welcher mit dem Christen¬
thum eindrang. Während einerseits der schneidende Gegensatz, in welchem
der milde Glaube der Entsagung zu den rauhen Neigungen eines erobernden
Kriegcrvvlkes stand, den Deutschen die Dissonanzen zwischen Pflicht und Nei¬
gung, zwischen äußerem und innerem Leben höchlich vermehrte, entsprach er
andererseits in auffallender Weise dem Bedürfniß der Hingebung, welche der
Deutsche für einige große Ideen schon längst besaß. Wenn an die Stelle
Wuotans und des getödteten Asengottes, der Vater der Christen und sein ein-
geborner Sohn, und an die Stelle der Schlachtjungfrauen die Schaaren der
Heiligen traten, so erhielt jetzt auch das Leben nach dem Tode noch höhe¬
ren Werth, eine neue Weihe und herzlichere Bedeutung. Und zu den al¬
ten Gewalten, welche den Entschluß des Mannes in der Stille bestimmt hat¬
ten, zu dem bedeutungsvollen Wort, einem anlaufenden Thiere, zu dem Trink¬
gelage und dem Würfelspiele, zu den Mahnungen der Heidenpriestcr und den
Weissagungen kluger Frauen kamen jetzt die Forderungen der neuen Kirche,
ihr Segen und ihr Fluch, Gelübde und Beichte, die Priester und die Mönche;
dicht an den rohen, rücksichtslosen Genuß traten leidenschaftliche Bußübungen
und, strengste Askese, und neben den Häusern der hübschen Frauen erhoben sich
die Nonnenklöster. Wie seit der Herrschaft des Christenglaubens die Charaktere
in den schärfsten Gegensätzen gezogen, wie Empfindung und Motive des Han¬
delns mannigfaltiger, tiefer und künstlicher gemacht werden, das zeigen z. B.
zahlreiche Gestalten aus der Zeit der Sachsenkaiser, wo fromme Schwärmerei
gerade unter den Vornehmen modisch wird und Männer und Frauen bald
durch das Bestreben, die Welt für sich zu gewinnen, bald durch den reuigen
Wunsch, den Himmel mit sich zu versöhnen, hin und her getrieben werden.

Wer je die Schwierigkeit empfunden hat, Personen des Mittelalters,
welche durch die tiefsinnige Natur der Germanen und die alte Kirche geformt
wurden, zu verstehen, der wird diese kurzen Andeutungen nach jeder Richtung
zu ergänzen wissen. Sie sollten hier nur dem unbefangenen Leser eines neuen
Geschichtswerks einige von den Schwierigkeiten aufzählen, mit denen der deutsche
Historiker zu kämpfen hat.

Der erste Mann aber, welcher den Deutschen ein ganz neues Verständniß
ihres innern Lebens gab, der erste, dessen innere Seelenprocesse und Gemüths¬
kämpfe Gemeingut der ganzen Nation wurden, war Martin Luther. Er ist in
diesem Sinne die erste dramatische Gestalt der Deutschen, und auch deshalb
? datirt von ihm die neue deutsche Geschichte.




Stimmungen. Gesetzen und phantastischen Träumereien, welcher mit dem Christen¬
thum eindrang. Während einerseits der schneidende Gegensatz, in welchem
der milde Glaube der Entsagung zu den rauhen Neigungen eines erobernden
Kriegcrvvlkes stand, den Deutschen die Dissonanzen zwischen Pflicht und Nei¬
gung, zwischen äußerem und innerem Leben höchlich vermehrte, entsprach er
andererseits in auffallender Weise dem Bedürfniß der Hingebung, welche der
Deutsche für einige große Ideen schon längst besaß. Wenn an die Stelle
Wuotans und des getödteten Asengottes, der Vater der Christen und sein ein-
geborner Sohn, und an die Stelle der Schlachtjungfrauen die Schaaren der
Heiligen traten, so erhielt jetzt auch das Leben nach dem Tode noch höhe¬
ren Werth, eine neue Weihe und herzlichere Bedeutung. Und zu den al¬
ten Gewalten, welche den Entschluß des Mannes in der Stille bestimmt hat¬
ten, zu dem bedeutungsvollen Wort, einem anlaufenden Thiere, zu dem Trink¬
gelage und dem Würfelspiele, zu den Mahnungen der Heidenpriestcr und den
Weissagungen kluger Frauen kamen jetzt die Forderungen der neuen Kirche,
ihr Segen und ihr Fluch, Gelübde und Beichte, die Priester und die Mönche;
dicht an den rohen, rücksichtslosen Genuß traten leidenschaftliche Bußübungen
und, strengste Askese, und neben den Häusern der hübschen Frauen erhoben sich
die Nonnenklöster. Wie seit der Herrschaft des Christenglaubens die Charaktere
in den schärfsten Gegensätzen gezogen, wie Empfindung und Motive des Han¬
delns mannigfaltiger, tiefer und künstlicher gemacht werden, das zeigen z. B.
zahlreiche Gestalten aus der Zeit der Sachsenkaiser, wo fromme Schwärmerei
gerade unter den Vornehmen modisch wird und Männer und Frauen bald
durch das Bestreben, die Welt für sich zu gewinnen, bald durch den reuigen
Wunsch, den Himmel mit sich zu versöhnen, hin und her getrieben werden.

Wer je die Schwierigkeit empfunden hat, Personen des Mittelalters,
welche durch die tiefsinnige Natur der Germanen und die alte Kirche geformt
wurden, zu verstehen, der wird diese kurzen Andeutungen nach jeder Richtung
zu ergänzen wissen. Sie sollten hier nur dem unbefangenen Leser eines neuen
Geschichtswerks einige von den Schwierigkeiten aufzählen, mit denen der deutsche
Historiker zu kämpfen hat.

Der erste Mann aber, welcher den Deutschen ein ganz neues Verständniß
ihres innern Lebens gab, der erste, dessen innere Seelenprocesse und Gemüths¬
kämpfe Gemeingut der ganzen Nation wurden, war Martin Luther. Er ist in
diesem Sinne die erste dramatische Gestalt der Deutschen, und auch deshalb
? datirt von ihm die neue deutsche Geschichte.




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[0070] Stimmungen. Gesetzen und phantastischen Träumereien, welcher mit dem Christen¬ thum eindrang. Während einerseits der schneidende Gegensatz, in welchem der milde Glaube der Entsagung zu den rauhen Neigungen eines erobernden Kriegcrvvlkes stand, den Deutschen die Dissonanzen zwischen Pflicht und Nei¬ gung, zwischen äußerem und innerem Leben höchlich vermehrte, entsprach er andererseits in auffallender Weise dem Bedürfniß der Hingebung, welche der Deutsche für einige große Ideen schon längst besaß. Wenn an die Stelle Wuotans und des getödteten Asengottes, der Vater der Christen und sein ein- geborner Sohn, und an die Stelle der Schlachtjungfrauen die Schaaren der Heiligen traten, so erhielt jetzt auch das Leben nach dem Tode noch höhe¬ ren Werth, eine neue Weihe und herzlichere Bedeutung. Und zu den al¬ ten Gewalten, welche den Entschluß des Mannes in der Stille bestimmt hat¬ ten, zu dem bedeutungsvollen Wort, einem anlaufenden Thiere, zu dem Trink¬ gelage und dem Würfelspiele, zu den Mahnungen der Heidenpriestcr und den Weissagungen kluger Frauen kamen jetzt die Forderungen der neuen Kirche, ihr Segen und ihr Fluch, Gelübde und Beichte, die Priester und die Mönche; dicht an den rohen, rücksichtslosen Genuß traten leidenschaftliche Bußübungen und, strengste Askese, und neben den Häusern der hübschen Frauen erhoben sich die Nonnenklöster. Wie seit der Herrschaft des Christenglaubens die Charaktere in den schärfsten Gegensätzen gezogen, wie Empfindung und Motive des Han¬ delns mannigfaltiger, tiefer und künstlicher gemacht werden, das zeigen z. B. zahlreiche Gestalten aus der Zeit der Sachsenkaiser, wo fromme Schwärmerei gerade unter den Vornehmen modisch wird und Männer und Frauen bald durch das Bestreben, die Welt für sich zu gewinnen, bald durch den reuigen Wunsch, den Himmel mit sich zu versöhnen, hin und her getrieben werden. Wer je die Schwierigkeit empfunden hat, Personen des Mittelalters, welche durch die tiefsinnige Natur der Germanen und die alte Kirche geformt wurden, zu verstehen, der wird diese kurzen Andeutungen nach jeder Richtung zu ergänzen wissen. Sie sollten hier nur dem unbefangenen Leser eines neuen Geschichtswerks einige von den Schwierigkeiten aufzählen, mit denen der deutsche Historiker zu kämpfen hat. Der erste Mann aber, welcher den Deutschen ein ganz neues Verständniß ihres innern Lebens gab, der erste, dessen innere Seelenprocesse und Gemüths¬ kämpfe Gemeingut der ganzen Nation wurden, war Martin Luther. Er ist in diesem Sinne die erste dramatische Gestalt der Deutschen, und auch deshalb ? datirt von ihm die neue deutsche Geschichte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/70>, abgerufen am 05.02.2025.