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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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jeder Theil hinfort nur für sich selbst zu sorgen und zu handeln gehabt hätte.
Das Wohl der ganzen Christenheit, das Heil des gesammten, "gemeinsamen"
Reiches sollte für jeden der Könige, unter die es vertheilt war, den obersten
Gesichtspunkt bilden, und durch häufige Zusammenkünste strebte man sowohl die
Beziehungen der einzelnen Königreiche zu einander friedlich-gesetzlich zu ordnen,
als auch sonst über allgemeine wichtige Angelegenheiten nach außen und innen
eine Art von bundesmäßiger Regierung herbeizuführen. Der Gedanke an das
Eine Christenreich war noch immer die nothwendige Voraussetzung aller poli¬
tischen Vorstellungen, der getheilte Zustand des Reiches dagegen nur die Folge
des zufälligen Vorhandenseins mehrer Erven und daher jeden Augenblick der
Vernichtung durch andere Zufälligkeiten ausgesetzt.

Man sieht, wie weit unmittelbar nach Abschluß des Verduner Vertrags
die Umstände entfernt waren mit einiger Bestimmtheit auf dasjenige hinzudeuten,
was sich späterhin aus ihnen entwickeln sollte. Zunächst gestalteten sich die
Dinge ziemlich chaotisch, und die üblen Prophezeiungen der Lotharianer gingen
reichlich in Erfüllung. Keines der drei königlichen Gebiete hatte einen gehörigen
Halt in sich; keiner der drei Theilkönige wußte seiner Krone das Ansehn zu
wahren, welches die Krone des Gesammtreiches auf dem Haupte Karls des
Großen und selbst noch Ludwigs des Frommen, in den Anfängen von dessen
Negierung gehabt hatte. Wohl aber fand bald der Eine, bald der Andere von
ihnen in den tausendfältigen Beziehungen der Gemeinschaft, die noch immer über
sämmtliche karolingische Länder dahingingen, Anreiz-und Anlaß, nach Ausbrei¬
tung seiner Herrschaft auf Unkosten seiner Brüder zu trachten. Dazu nun die
fortwährenden Regungen von Sondergelüsten unter den verschiedenen, in jedem
der drei Gebiete mit einander verbundenen Völkerschaften -- jetzt um so bedeut¬
samer und gefährlicher, da das Eigentliche Centrum des ganzen Reiches, der
fränkische Stamm, durch die Theilung des Reiches in drei Stücke auseinander¬
getrennt war. Endlich die auswärtigen Feinde sämmtlicher karolingischer Län¬
der -- die Saracenen, die furchtbaren Normannen und, vom Ende des 9. Jahr¬
hunderts an, auch die Magyaren, die hauptsächlich der innern Verwirrung des
Reiches ihre oft sehr mühelosem Erfolge verdankten!

Eines aber gibt es, wodurch sich bei allem Jammer diese Karolingerzeit
vor ähnlichen Abschnitten der früheren, merovingischen Periode des fränkischen
Reiches unterscheidet. Den Zerfall des Reiches überdauerte um eine- geraume
Zeit das geistige in diesem Reiche erwachte Leben; namentlich aber findet die
Kirche gerade in der Zertheilung und Herabwürdigung der weltlichen Gewalten
die Möglichkeit, sich in selbständiger Autorität den Großen der Welt gegen¬
überzustellen wie nie zuvor. Zieht kein weltlicher Herrscher mehr als einiger
Herr der ganzen Christenheit die Verehrung der Menschen auf sich, so steigert
sich die Verehrung gegen den Papst, nun den einzigen sichtbaren Mittelpunkt


jeder Theil hinfort nur für sich selbst zu sorgen und zu handeln gehabt hätte.
Das Wohl der ganzen Christenheit, das Heil des gesammten, „gemeinsamen"
Reiches sollte für jeden der Könige, unter die es vertheilt war, den obersten
Gesichtspunkt bilden, und durch häufige Zusammenkünste strebte man sowohl die
Beziehungen der einzelnen Königreiche zu einander friedlich-gesetzlich zu ordnen,
als auch sonst über allgemeine wichtige Angelegenheiten nach außen und innen
eine Art von bundesmäßiger Regierung herbeizuführen. Der Gedanke an das
Eine Christenreich war noch immer die nothwendige Voraussetzung aller poli¬
tischen Vorstellungen, der getheilte Zustand des Reiches dagegen nur die Folge
des zufälligen Vorhandenseins mehrer Erven und daher jeden Augenblick der
Vernichtung durch andere Zufälligkeiten ausgesetzt.

Man sieht, wie weit unmittelbar nach Abschluß des Verduner Vertrags
die Umstände entfernt waren mit einiger Bestimmtheit auf dasjenige hinzudeuten,
was sich späterhin aus ihnen entwickeln sollte. Zunächst gestalteten sich die
Dinge ziemlich chaotisch, und die üblen Prophezeiungen der Lotharianer gingen
reichlich in Erfüllung. Keines der drei königlichen Gebiete hatte einen gehörigen
Halt in sich; keiner der drei Theilkönige wußte seiner Krone das Ansehn zu
wahren, welches die Krone des Gesammtreiches auf dem Haupte Karls des
Großen und selbst noch Ludwigs des Frommen, in den Anfängen von dessen
Negierung gehabt hatte. Wohl aber fand bald der Eine, bald der Andere von
ihnen in den tausendfältigen Beziehungen der Gemeinschaft, die noch immer über
sämmtliche karolingische Länder dahingingen, Anreiz-und Anlaß, nach Ausbrei¬
tung seiner Herrschaft auf Unkosten seiner Brüder zu trachten. Dazu nun die
fortwährenden Regungen von Sondergelüsten unter den verschiedenen, in jedem
der drei Gebiete mit einander verbundenen Völkerschaften — jetzt um so bedeut¬
samer und gefährlicher, da das Eigentliche Centrum des ganzen Reiches, der
fränkische Stamm, durch die Theilung des Reiches in drei Stücke auseinander¬
getrennt war. Endlich die auswärtigen Feinde sämmtlicher karolingischer Län¬
der — die Saracenen, die furchtbaren Normannen und, vom Ende des 9. Jahr¬
hunderts an, auch die Magyaren, die hauptsächlich der innern Verwirrung des
Reiches ihre oft sehr mühelosem Erfolge verdankten!

Eines aber gibt es, wodurch sich bei allem Jammer diese Karolingerzeit
vor ähnlichen Abschnitten der früheren, merovingischen Periode des fränkischen
Reiches unterscheidet. Den Zerfall des Reiches überdauerte um eine- geraume
Zeit das geistige in diesem Reiche erwachte Leben; namentlich aber findet die
Kirche gerade in der Zertheilung und Herabwürdigung der weltlichen Gewalten
die Möglichkeit, sich in selbständiger Autorität den Großen der Welt gegen¬
überzustellen wie nie zuvor. Zieht kein weltlicher Herrscher mehr als einiger
Herr der ganzen Christenheit die Verehrung der Menschen auf sich, so steigert
sich die Verehrung gegen den Papst, nun den einzigen sichtbaren Mittelpunkt


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[0346] jeder Theil hinfort nur für sich selbst zu sorgen und zu handeln gehabt hätte. Das Wohl der ganzen Christenheit, das Heil des gesammten, „gemeinsamen" Reiches sollte für jeden der Könige, unter die es vertheilt war, den obersten Gesichtspunkt bilden, und durch häufige Zusammenkünste strebte man sowohl die Beziehungen der einzelnen Königreiche zu einander friedlich-gesetzlich zu ordnen, als auch sonst über allgemeine wichtige Angelegenheiten nach außen und innen eine Art von bundesmäßiger Regierung herbeizuführen. Der Gedanke an das Eine Christenreich war noch immer die nothwendige Voraussetzung aller poli¬ tischen Vorstellungen, der getheilte Zustand des Reiches dagegen nur die Folge des zufälligen Vorhandenseins mehrer Erven und daher jeden Augenblick der Vernichtung durch andere Zufälligkeiten ausgesetzt. Man sieht, wie weit unmittelbar nach Abschluß des Verduner Vertrags die Umstände entfernt waren mit einiger Bestimmtheit auf dasjenige hinzudeuten, was sich späterhin aus ihnen entwickeln sollte. Zunächst gestalteten sich die Dinge ziemlich chaotisch, und die üblen Prophezeiungen der Lotharianer gingen reichlich in Erfüllung. Keines der drei königlichen Gebiete hatte einen gehörigen Halt in sich; keiner der drei Theilkönige wußte seiner Krone das Ansehn zu wahren, welches die Krone des Gesammtreiches auf dem Haupte Karls des Großen und selbst noch Ludwigs des Frommen, in den Anfängen von dessen Negierung gehabt hatte. Wohl aber fand bald der Eine, bald der Andere von ihnen in den tausendfältigen Beziehungen der Gemeinschaft, die noch immer über sämmtliche karolingische Länder dahingingen, Anreiz-und Anlaß, nach Ausbrei¬ tung seiner Herrschaft auf Unkosten seiner Brüder zu trachten. Dazu nun die fortwährenden Regungen von Sondergelüsten unter den verschiedenen, in jedem der drei Gebiete mit einander verbundenen Völkerschaften — jetzt um so bedeut¬ samer und gefährlicher, da das Eigentliche Centrum des ganzen Reiches, der fränkische Stamm, durch die Theilung des Reiches in drei Stücke auseinander¬ getrennt war. Endlich die auswärtigen Feinde sämmtlicher karolingischer Län¬ der — die Saracenen, die furchtbaren Normannen und, vom Ende des 9. Jahr¬ hunderts an, auch die Magyaren, die hauptsächlich der innern Verwirrung des Reiches ihre oft sehr mühelosem Erfolge verdankten! Eines aber gibt es, wodurch sich bei allem Jammer diese Karolingerzeit vor ähnlichen Abschnitten der früheren, merovingischen Periode des fränkischen Reiches unterscheidet. Den Zerfall des Reiches überdauerte um eine- geraume Zeit das geistige in diesem Reiche erwachte Leben; namentlich aber findet die Kirche gerade in der Zertheilung und Herabwürdigung der weltlichen Gewalten die Möglichkeit, sich in selbständiger Autorität den Großen der Welt gegen¬ überzustellen wie nie zuvor. Zieht kein weltlicher Herrscher mehr als einiger Herr der ganzen Christenheit die Verehrung der Menschen auf sich, so steigert sich die Verehrung gegen den Papst, nun den einzigen sichtbaren Mittelpunkt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/346>, abgerufen am 26.08.2024.