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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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deine zweite Vaterstadt, deine Pflegemutter, weiht dir jetzt diese Thränen.
Mein Wort macht manches Auge feucht; aber das genügt nicht. Wir wollen,
daß an dem Hügel von Tibur, wo du schlummerst, nicht auf frischem Rasen
und weich gebettet wie der Dichter, sondern in deinem blutigen Leichentuch,
in dem Schweißtuch des Märtyrers -- wir wollen, daß dort ein einfaches
Denkmal dein Grab decke, und auf diesem Marmor werden die edelsten Na¬
men unsrer Provinz nebst denjenigen mehrer andern Söhne des Volks sich zu
dem deinigen gesellen."

In der That, eine schöne, eine salbungsreiche Rede, die zweifelsohne die
beabsichtigte Wirkung gethan hat. Zuerst Idylle, dann Tragödie, schließlich der
offne Himmel! Schade nur, daß an dem Panegyrikus. den sie enthielt, auch
nicht ein einziges Wort dem wahren Sachvcrhciltniß entsprach. Es gibt in
Frankreich neben dem Erzbischof von Poitiers eine kaiserliche Regierung, der
mit der Predigt von Se. Nodoguedt begreiflicherweise nicht gedient war. Es
gibt dort ferner neben einem frommen und poetisch empfindenden Klerus eine
sehr weltlich gesinnte und äußerst prosaisch gestimmte Polizei, nüchterne Staats¬
anwälte und trocken urtheilende Richter. Es kommen endlich Fälle vor, daß
Todte vor der rechten Zeit wieder lebendig werden, und daß besagte Polizei
dies mißfällig vermerkt und als Ungebühr der Bestrafung überantwortet.

Ein solcher fataler Fall war der unsrige, und in Folge dessen gab es am
26. October 186l, also kaum ein Jahr nach der Feier in Se. Nodoguedt, in
der Stadt Laval (Provinz Maine) vor dem Zuchtpolizeigericht eine Verhand¬
lung, die wir als Seitenstück zu jener Feier in ihren Hauptmomenten mit¬
theilen. Gegenstand derselben war wie dort Louis Gicquel, aber nicht der
todte, sondern der lebendige. Redner war der Staatsanwalt, aber nicht als feu¬
riger Panegynter, sondern als kühler, bisweilen ironischer, stellenweise mali-
tiöser Ankläger, das Ziel seines Vortrags statt eines Denkmals das Arbeits¬
haus, die Begleitung desselben durch das Publicum nicht Thränen der Rührung,
sondern kaum verhaltenes Lachen -- der fromme, mit allen Tugenden des wah¬
ren Christen geschmückte Jüngling des hochwürdigsten Erzbischofs von Poitiers
hatte sich in einen nichtswürdigen Strolch, der Märtyrer in einen Gauner
verwandelt. Die Beatisicationspredigt von Se. Nodoguedt war unter den
Händen der Polizei zu einem Manöver geworden, das entweder ein unerhört
dummer Streich oder eine unerhört freche Tendcnzlüge war. Die Blamage der
gegen den Kaiser conspirircnden Geistlichkeit war ungeheuer").

Gicquel, der in Poitiers Heiliggesprochne, war der Sohn eines dem Trunk
ergebner Tischlers zu Guingamv in der Bretagne und schon in früher Jugend



") Ausführlicheres über den Prozeß Gicquels enthält der 31, Theil des Neuen Pitnval
(S. 57, bis 7S), der seinerseits wieder aus Ur. L02 der "InäexölläAiios delgs" vom Jahre
1SS1 schöpft.

deine zweite Vaterstadt, deine Pflegemutter, weiht dir jetzt diese Thränen.
Mein Wort macht manches Auge feucht; aber das genügt nicht. Wir wollen,
daß an dem Hügel von Tibur, wo du schlummerst, nicht auf frischem Rasen
und weich gebettet wie der Dichter, sondern in deinem blutigen Leichentuch,
in dem Schweißtuch des Märtyrers — wir wollen, daß dort ein einfaches
Denkmal dein Grab decke, und auf diesem Marmor werden die edelsten Na¬
men unsrer Provinz nebst denjenigen mehrer andern Söhne des Volks sich zu
dem deinigen gesellen."

In der That, eine schöne, eine salbungsreiche Rede, die zweifelsohne die
beabsichtigte Wirkung gethan hat. Zuerst Idylle, dann Tragödie, schließlich der
offne Himmel! Schade nur, daß an dem Panegyrikus. den sie enthielt, auch
nicht ein einziges Wort dem wahren Sachvcrhciltniß entsprach. Es gibt in
Frankreich neben dem Erzbischof von Poitiers eine kaiserliche Regierung, der
mit der Predigt von Se. Nodoguedt begreiflicherweise nicht gedient war. Es
gibt dort ferner neben einem frommen und poetisch empfindenden Klerus eine
sehr weltlich gesinnte und äußerst prosaisch gestimmte Polizei, nüchterne Staats¬
anwälte und trocken urtheilende Richter. Es kommen endlich Fälle vor, daß
Todte vor der rechten Zeit wieder lebendig werden, und daß besagte Polizei
dies mißfällig vermerkt und als Ungebühr der Bestrafung überantwortet.

Ein solcher fataler Fall war der unsrige, und in Folge dessen gab es am
26. October 186l, also kaum ein Jahr nach der Feier in Se. Nodoguedt, in
der Stadt Laval (Provinz Maine) vor dem Zuchtpolizeigericht eine Verhand¬
lung, die wir als Seitenstück zu jener Feier in ihren Hauptmomenten mit¬
theilen. Gegenstand derselben war wie dort Louis Gicquel, aber nicht der
todte, sondern der lebendige. Redner war der Staatsanwalt, aber nicht als feu¬
riger Panegynter, sondern als kühler, bisweilen ironischer, stellenweise mali-
tiöser Ankläger, das Ziel seines Vortrags statt eines Denkmals das Arbeits¬
haus, die Begleitung desselben durch das Publicum nicht Thränen der Rührung,
sondern kaum verhaltenes Lachen — der fromme, mit allen Tugenden des wah¬
ren Christen geschmückte Jüngling des hochwürdigsten Erzbischofs von Poitiers
hatte sich in einen nichtswürdigen Strolch, der Märtyrer in einen Gauner
verwandelt. Die Beatisicationspredigt von Se. Nodoguedt war unter den
Händen der Polizei zu einem Manöver geworden, das entweder ein unerhört
dummer Streich oder eine unerhört freche Tendcnzlüge war. Die Blamage der
gegen den Kaiser conspirircnden Geistlichkeit war ungeheuer").

Gicquel, der in Poitiers Heiliggesprochne, war der Sohn eines dem Trunk
ergebner Tischlers zu Guingamv in der Bretagne und schon in früher Jugend



") Ausführlicheres über den Prozeß Gicquels enthält der 31, Theil des Neuen Pitnval
(S. 57, bis 7S), der seinerseits wieder aus Ur. L02 der „InäexölläAiios delgs" vom Jahre
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/124>, abgerufen am 24.08.2024.