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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Zu der Gemeinde Troyes (Departement der Seine und Marne) gehört
das fünf Stunden entfernte Filial Estissac, wo mehre Hundert Protestanten,
meist Convertiten, wohnen. Beide Gemeinden sind vielfachen Anfeindungen
von Seiten der katholischen Geistlichkeit ausgesetzt, und trotz aller Bemühungen
ist es noch nicht gelungen, die Erlaubniß zur Eröffnung der Kirche in Estissac
zu erlangen, so daß die Protestanten dieses Orts, um Theil am Gottesdienst
ihres Bekenntnisses zu nehmen, noch immer den eine halbe Tagereise langen Weg
nach Troyes zurücklegen müssen.

Sehr wichtig ist ferner die durch zahlreiche Uebertritte aus der katholischen
Kirche bedeutend gewachsene Gemeinde von Sauveterre bei Ager, deren Kirchen-'
Wesen jetzt unter staatlicher Anerkennung organisirt ist, und die nun unter dem
Konsistorium von Lafitte steht. Die Äußere Bewegung nach evangelischer Lehre
hin ist gegenwartig im Orte selbst nicht mehr so mächtig wie vor einiger Zeit,
dagegen berichtete 1861 der Pfarrer sehr Erfreuliches über das Wachsthum des
innern kirchlichen Lebens. Die anfänglich häufig vorgekommenen Verfolgungen
der Gemeinde durch ihre katholischen Nachbarn haben trotz aller Hetzereien des
katholischen Klerus aufgehört, und die öffentliche Meinung im Orte spricht sich
entschieden gegen weitere Friedensstörungen aus. Ein Hausirer mit Bibeln
und Neuen Testamenten fand vor einiger Zeit im Kloster freundliche Aufnahme
und verkaufte dort schnell eine Anzahl seiner Bücher an die Nonnen. Am an¬
dern Tag wurden die Bibeln feierlich im Klosterhof verbrannt. Nach vierzehn
Tagen kam der Mann wieder, um sich den Nest der Zahlung auszubitten.
Während er an der Pforte mit einigen Schwestern sprach, wurde sein Bücher¬
sack vollständig geplündert. Diese Ungebühr fand allgemein bei der katholischen
Bevölkerung lauteste Mißbilligung, und auf Befehl der Behörde hatten die
Nonnen die Bücher zurückzuerstatten. Die bei Beerdigung eines Evangelischen
in dem benachbarten Astaffort vom protestantischen Prediger gehaltene Leichen¬
rede machte auf die dortige katholische Bevölkerung einen solchen Eindruck, daß
sich alsbald eine große Anzahl derselben zum Uebertritt meldeten. Nach ge¬
wissenhafter Prüfung wurden erst sechzehn, dann noch zehn Familien in die evange¬
lische Kirche aufgenommen, und sehr wahrscheinlich werden bald noch einige fol¬
gen. Für diese jetzt etwa hundert Köpfe zählenden Protestanten in Astaffort
ist nun eine evangelische Schule unbedingt nothwendig, da die Mädchen, wie
obiges Beispiel zeigt, dem Unterricht der Klostcrschwcstern unmöglich länger
überlassen bleiben können.

Die deutsche evangelische Gemeinde zu Lyon, die vor Kurzem die staat¬
liche Anerkennung erlangt hat, ist in erfreulichem Aufblühen begriffen. Von
besonderer Bedeutung ist hier die Armenpflege, die jetzt zweckmäßig organisirt,
wenn auch noch lange nicht mit ausreichenden Mitteln ausgestattet ist. Man
hat zwölf Armenpfleger eingesetzt, die unter Vorsitz des Pfarrers und unter


Grenzboten III. 1862. 14

Zu der Gemeinde Troyes (Departement der Seine und Marne) gehört
das fünf Stunden entfernte Filial Estissac, wo mehre Hundert Protestanten,
meist Convertiten, wohnen. Beide Gemeinden sind vielfachen Anfeindungen
von Seiten der katholischen Geistlichkeit ausgesetzt, und trotz aller Bemühungen
ist es noch nicht gelungen, die Erlaubniß zur Eröffnung der Kirche in Estissac
zu erlangen, so daß die Protestanten dieses Orts, um Theil am Gottesdienst
ihres Bekenntnisses zu nehmen, noch immer den eine halbe Tagereise langen Weg
nach Troyes zurücklegen müssen.

Sehr wichtig ist ferner die durch zahlreiche Uebertritte aus der katholischen
Kirche bedeutend gewachsene Gemeinde von Sauveterre bei Ager, deren Kirchen-'
Wesen jetzt unter staatlicher Anerkennung organisirt ist, und die nun unter dem
Konsistorium von Lafitte steht. Die Äußere Bewegung nach evangelischer Lehre
hin ist gegenwartig im Orte selbst nicht mehr so mächtig wie vor einiger Zeit,
dagegen berichtete 1861 der Pfarrer sehr Erfreuliches über das Wachsthum des
innern kirchlichen Lebens. Die anfänglich häufig vorgekommenen Verfolgungen
der Gemeinde durch ihre katholischen Nachbarn haben trotz aller Hetzereien des
katholischen Klerus aufgehört, und die öffentliche Meinung im Orte spricht sich
entschieden gegen weitere Friedensstörungen aus. Ein Hausirer mit Bibeln
und Neuen Testamenten fand vor einiger Zeit im Kloster freundliche Aufnahme
und verkaufte dort schnell eine Anzahl seiner Bücher an die Nonnen. Am an¬
dern Tag wurden die Bibeln feierlich im Klosterhof verbrannt. Nach vierzehn
Tagen kam der Mann wieder, um sich den Nest der Zahlung auszubitten.
Während er an der Pforte mit einigen Schwestern sprach, wurde sein Bücher¬
sack vollständig geplündert. Diese Ungebühr fand allgemein bei der katholischen
Bevölkerung lauteste Mißbilligung, und auf Befehl der Behörde hatten die
Nonnen die Bücher zurückzuerstatten. Die bei Beerdigung eines Evangelischen
in dem benachbarten Astaffort vom protestantischen Prediger gehaltene Leichen¬
rede machte auf die dortige katholische Bevölkerung einen solchen Eindruck, daß
sich alsbald eine große Anzahl derselben zum Uebertritt meldeten. Nach ge¬
wissenhafter Prüfung wurden erst sechzehn, dann noch zehn Familien in die evange¬
lische Kirche aufgenommen, und sehr wahrscheinlich werden bald noch einige fol¬
gen. Für diese jetzt etwa hundert Köpfe zählenden Protestanten in Astaffort
ist nun eine evangelische Schule unbedingt nothwendig, da die Mädchen, wie
obiges Beispiel zeigt, dem Unterricht der Klostcrschwcstern unmöglich länger
überlassen bleiben können.

Die deutsche evangelische Gemeinde zu Lyon, die vor Kurzem die staat¬
liche Anerkennung erlangt hat, ist in erfreulichem Aufblühen begriffen. Von
besonderer Bedeutung ist hier die Armenpflege, die jetzt zweckmäßig organisirt,
wenn auch noch lange nicht mit ausreichenden Mitteln ausgestattet ist. Man
hat zwölf Armenpfleger eingesetzt, die unter Vorsitz des Pfarrers und unter


Grenzboten III. 1862. 14
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[0113] Zu der Gemeinde Troyes (Departement der Seine und Marne) gehört das fünf Stunden entfernte Filial Estissac, wo mehre Hundert Protestanten, meist Convertiten, wohnen. Beide Gemeinden sind vielfachen Anfeindungen von Seiten der katholischen Geistlichkeit ausgesetzt, und trotz aller Bemühungen ist es noch nicht gelungen, die Erlaubniß zur Eröffnung der Kirche in Estissac zu erlangen, so daß die Protestanten dieses Orts, um Theil am Gottesdienst ihres Bekenntnisses zu nehmen, noch immer den eine halbe Tagereise langen Weg nach Troyes zurücklegen müssen. Sehr wichtig ist ferner die durch zahlreiche Uebertritte aus der katholischen Kirche bedeutend gewachsene Gemeinde von Sauveterre bei Ager, deren Kirchen-' Wesen jetzt unter staatlicher Anerkennung organisirt ist, und die nun unter dem Konsistorium von Lafitte steht. Die Äußere Bewegung nach evangelischer Lehre hin ist gegenwartig im Orte selbst nicht mehr so mächtig wie vor einiger Zeit, dagegen berichtete 1861 der Pfarrer sehr Erfreuliches über das Wachsthum des innern kirchlichen Lebens. Die anfänglich häufig vorgekommenen Verfolgungen der Gemeinde durch ihre katholischen Nachbarn haben trotz aller Hetzereien des katholischen Klerus aufgehört, und die öffentliche Meinung im Orte spricht sich entschieden gegen weitere Friedensstörungen aus. Ein Hausirer mit Bibeln und Neuen Testamenten fand vor einiger Zeit im Kloster freundliche Aufnahme und verkaufte dort schnell eine Anzahl seiner Bücher an die Nonnen. Am an¬ dern Tag wurden die Bibeln feierlich im Klosterhof verbrannt. Nach vierzehn Tagen kam der Mann wieder, um sich den Nest der Zahlung auszubitten. Während er an der Pforte mit einigen Schwestern sprach, wurde sein Bücher¬ sack vollständig geplündert. Diese Ungebühr fand allgemein bei der katholischen Bevölkerung lauteste Mißbilligung, und auf Befehl der Behörde hatten die Nonnen die Bücher zurückzuerstatten. Die bei Beerdigung eines Evangelischen in dem benachbarten Astaffort vom protestantischen Prediger gehaltene Leichen¬ rede machte auf die dortige katholische Bevölkerung einen solchen Eindruck, daß sich alsbald eine große Anzahl derselben zum Uebertritt meldeten. Nach ge¬ wissenhafter Prüfung wurden erst sechzehn, dann noch zehn Familien in die evange¬ lische Kirche aufgenommen, und sehr wahrscheinlich werden bald noch einige fol¬ gen. Für diese jetzt etwa hundert Köpfe zählenden Protestanten in Astaffort ist nun eine evangelische Schule unbedingt nothwendig, da die Mädchen, wie obiges Beispiel zeigt, dem Unterricht der Klostcrschwcstern unmöglich länger überlassen bleiben können. Die deutsche evangelische Gemeinde zu Lyon, die vor Kurzem die staat¬ liche Anerkennung erlangt hat, ist in erfreulichem Aufblühen begriffen. Von besonderer Bedeutung ist hier die Armenpflege, die jetzt zweckmäßig organisirt, wenn auch noch lange nicht mit ausreichenden Mitteln ausgestattet ist. Man hat zwölf Armenpfleger eingesetzt, die unter Vorsitz des Pfarrers und unter Grenzboten III. 1862. 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/113>, abgerufen am 25.08.2024.