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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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viel weniger durch ihren Gegensatz gegen jene, als durch gegenseitige Eifersucht
zu gemeinsamem Handeln bestimmt wurden. Der Hauptgesichtspunkt, unter
dem England die spanische Frage auffaßte, war der, die Halbinsel völlig seinem
Einflüsse zu unterwerfen. Auf dies Ziel steuerte Lord Palmerston rücksichtslos
hin, und brachte durch die Entschiedenheit seines Handelns. Frankreich in die
ungünstige Lage, den Antrieben der englischen Politik folgen zu müssen, um der
Gefahr der Jsolirung zu entgehen. Grade das Hervortreten des Gegensatzes
zwischen England und Frankreich ist die historisch wichtigste Seite der spanischen
Ereignisse, weshalb wir im Folgenden auf diesen Punkt vorzugsweise unsere
Aufmerksamkeit richten wollen.

Wir werfen zuerst einen Blick auf die von Guizot ausführlich entwickelte
Rechtsfrage, um die es sich bei dem Bürgerkriege in Spanien handelte. Nach
dem alten spanischen Gesetze konnten in Ermangelung d.irecter männlicher Erben
auch Frauen den spanischen Thron besteigen. Im Jahre 1714 führte Philipp
der Fünfte zwar nicht das salische Gesetz, wohl aber eine Erbfolgevrdnung ein,
nach der die weibliche Thronfolge auf den Fall beschränkt wurde, daß weder
directe noch cvllaterale männliche Erben vorhanden wären. Im Jahre 1789
erneuerte Karl der Vierte wieder das alte spanische Gesetz und ließ dasselbe
durch die Cortes sanctioniren, aber nicht publiciren. Auch die Cortes von
1812 behielten in der Konstitution von 1812 die weibliche Thronfolge bei.
Nach der Restauration und der Abschaffung der Verfassung von 1312 galt es
als selbstverständlich, daß das Gesetz von 1714 zu Recht bestehe. Da ließ am
3. April 1830, während der ersten Schwangerschaft der Königin Christine,
Ferdinand der Siebente, nach Anhörung des Rathes von Castilien, plötzlich
das Gesetz von 1789 feierlich als Gesetz des Königreichs publiciren, ohne auf die
Proteste Frankreichs und Neapels Rücksicht zu nehmen. Im Jahre 1832 gelang
es der apostolischen Partei, die dem ihr eng verbundenen Infanten Don Carlos
die Krone zuwenden wollte, den König während einer schweren Krankheit zu einem
Widerrufe des Gesetzes zu bewegen und die Pragmatik Philipps des Fünften
wieder herzustellen. Doch wurde dieser neue Staatsstreich geheim gehalten; die
darauf bezügliche Acte wurde, wie es heißt, versiegelt in der Kanzlei der Gnaden
und Gerechtigkeit niedergelegt, mit der Aufschrift: Zu öffnen im Falle des Todes
des Königs, oder wann er es befehlen wird. Kaum trat Ferdinand der Siebente
wieder in die Genesung ein. so bot Christine, unterstützt von den Liberalen,
alles auf, um den Widerruf rückgängig zu machen. In der That erklärte
der König, als er nach seiner völligen Genesung die Regierung übernommen
hatte, den Widerruf, als ihm während seiner Krankheit abgedrungen, für
nichtig und stellte das Gesetz von l830 wieder her.

Diese kurze Uebersicht wird genügen, um auch die anarchischesten Erschei¬
nungen in Spanien erklärlich zu machen. Indem der Absolutismus, jedem


viel weniger durch ihren Gegensatz gegen jene, als durch gegenseitige Eifersucht
zu gemeinsamem Handeln bestimmt wurden. Der Hauptgesichtspunkt, unter
dem England die spanische Frage auffaßte, war der, die Halbinsel völlig seinem
Einflüsse zu unterwerfen. Auf dies Ziel steuerte Lord Palmerston rücksichtslos
hin, und brachte durch die Entschiedenheit seines Handelns. Frankreich in die
ungünstige Lage, den Antrieben der englischen Politik folgen zu müssen, um der
Gefahr der Jsolirung zu entgehen. Grade das Hervortreten des Gegensatzes
zwischen England und Frankreich ist die historisch wichtigste Seite der spanischen
Ereignisse, weshalb wir im Folgenden auf diesen Punkt vorzugsweise unsere
Aufmerksamkeit richten wollen.

Wir werfen zuerst einen Blick auf die von Guizot ausführlich entwickelte
Rechtsfrage, um die es sich bei dem Bürgerkriege in Spanien handelte. Nach
dem alten spanischen Gesetze konnten in Ermangelung d.irecter männlicher Erben
auch Frauen den spanischen Thron besteigen. Im Jahre 1714 führte Philipp
der Fünfte zwar nicht das salische Gesetz, wohl aber eine Erbfolgevrdnung ein,
nach der die weibliche Thronfolge auf den Fall beschränkt wurde, daß weder
directe noch cvllaterale männliche Erben vorhanden wären. Im Jahre 1789
erneuerte Karl der Vierte wieder das alte spanische Gesetz und ließ dasselbe
durch die Cortes sanctioniren, aber nicht publiciren. Auch die Cortes von
1812 behielten in der Konstitution von 1812 die weibliche Thronfolge bei.
Nach der Restauration und der Abschaffung der Verfassung von 1312 galt es
als selbstverständlich, daß das Gesetz von 1714 zu Recht bestehe. Da ließ am
3. April 1830, während der ersten Schwangerschaft der Königin Christine,
Ferdinand der Siebente, nach Anhörung des Rathes von Castilien, plötzlich
das Gesetz von 1789 feierlich als Gesetz des Königreichs publiciren, ohne auf die
Proteste Frankreichs und Neapels Rücksicht zu nehmen. Im Jahre 1832 gelang
es der apostolischen Partei, die dem ihr eng verbundenen Infanten Don Carlos
die Krone zuwenden wollte, den König während einer schweren Krankheit zu einem
Widerrufe des Gesetzes zu bewegen und die Pragmatik Philipps des Fünften
wieder herzustellen. Doch wurde dieser neue Staatsstreich geheim gehalten; die
darauf bezügliche Acte wurde, wie es heißt, versiegelt in der Kanzlei der Gnaden
und Gerechtigkeit niedergelegt, mit der Aufschrift: Zu öffnen im Falle des Todes
des Königs, oder wann er es befehlen wird. Kaum trat Ferdinand der Siebente
wieder in die Genesung ein. so bot Christine, unterstützt von den Liberalen,
alles auf, um den Widerruf rückgängig zu machen. In der That erklärte
der König, als er nach seiner völligen Genesung die Regierung übernommen
hatte, den Widerruf, als ihm während seiner Krankheit abgedrungen, für
nichtig und stellte das Gesetz von l830 wieder her.

Diese kurze Uebersicht wird genügen, um auch die anarchischesten Erschei¬
nungen in Spanien erklärlich zu machen. Indem der Absolutismus, jedem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/490>, abgerufen am 06.01.2025.