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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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der unwissenden Masse, das Bild wie das Original angesehen wird und daß
namentlich gewisse Bilder eine an Götzendienst grenzende Verehrung genießen
und als > mit magischen Kräften begabt gelten. Um ein Beispiel anzuführen,
würde kein gottesfürchtiger Moskowit ein neues Haus beziehen, bevor das¬
selbe nicht eine Visite von dem prächtig geputzten, reich mit Juwelen besetzten
Porträt der dreihändigen Iberischen Jungfrau empfangen hat, welches, vom
Evangelisten Lucas gemalt, früher auf dem Berg Athos war und jetzt in
einer Kapelle vor dem Thore verwahrt wird, das auf den Rothen Platz
führt. Da Besuche von andern Marienbildern nicht für so wirksam gelten,
so ist die Iberische Jungfrau bisweilen den ganzen Tag hindurch in Anspruch
genommen, und die Frommen setzen sich lieber allen möglichen Unbequemlich¬
keiten aus und empfangen sie lieber in der Nacht oder am frühen Morgen,
wenn sie unbelegt ist, als daß sie auf die segensreiche Visite Verzicht leisteten.
Die Heilige fährt übrigens zu solchen Besuchen, wie der Metropolit, stets in
sechsspänniger Karosse. Ihre Postillone erscheinen unbedeckten Hauptes, und
nur im Winter gestattet ihnen das Herkommen, sich Tücher um die Köpfe zu
wickeln. Mütze oder Hut sind auch dann gegen die Etiquette. In der Kathe¬
drale der Himmelfahrt auf dem Kreml befindet sich ferner das Bild Sanct
Antiopos'. des Märtyrers, zu dem man nur zu beten braucht, um sofort vom
eingewurzeltsten Zahnweh befreit zu werden. Es gibt noch manches Bild die¬
ses guten Heiligen, aber kein Mensch würde sich zu einem andern als gerade
zu diesem wenden, um zahnärztliche Dienstleistungen zu erbitten.

Von selbst versteht sich übrigens, daß die Andächtigen nicht, wie die Kirche
vorschreibt, blos die Vermittlung der Heiligen bei Gott anrufen, sondern zu
den Heiligen selbst, wie zu Untergöttern, um Gewährung ihrer Anliegen
bitten.

Nicht so selbstverständlich ist für uns, daß die russische Kirche nur gemalte,
nicht solche Heiligenbilder duldet, weiche Statuen sind. Indeß wird das Recht
des Meißels bis zu einem gewissen Grad anerkannt, das heißt, man gestattet
Haut- und Basrelief-Darstellungen, und zwar können die ersteren im höchsten
Relief ausgeführt sein, nur dürfen sie sich nicht ganz von der Wand ablösen.
Die gemalten Bilder aber müssen nach einer bestimmten Schablone gemacht
sein, wenn sie dem orthodoxen Volte Ehrfurcht abnöthigen sollen. Sie haben
große Ähnlichkeit mit den Figuren auf Spielkarten und werden fabrikmäßig,
zum Theil von den Mönchen der Athosklöster. zum Theil in Rußland selbst
angefertigt.

Diese Heiligenbilder dienen dann zugleich als Hausgötter für das russische
Volk, und so findet man deren vom Palast bis zur elendesten Bauernhütte, in
den kleinen Dampfbooten, die zwischen Kronstäbe und Petersburg fahren, und
deren düstre Kajüten sonst kein Hausgeräth zeigen, wie in den Prachtgalerien


der unwissenden Masse, das Bild wie das Original angesehen wird und daß
namentlich gewisse Bilder eine an Götzendienst grenzende Verehrung genießen
und als > mit magischen Kräften begabt gelten. Um ein Beispiel anzuführen,
würde kein gottesfürchtiger Moskowit ein neues Haus beziehen, bevor das¬
selbe nicht eine Visite von dem prächtig geputzten, reich mit Juwelen besetzten
Porträt der dreihändigen Iberischen Jungfrau empfangen hat, welches, vom
Evangelisten Lucas gemalt, früher auf dem Berg Athos war und jetzt in
einer Kapelle vor dem Thore verwahrt wird, das auf den Rothen Platz
führt. Da Besuche von andern Marienbildern nicht für so wirksam gelten,
so ist die Iberische Jungfrau bisweilen den ganzen Tag hindurch in Anspruch
genommen, und die Frommen setzen sich lieber allen möglichen Unbequemlich¬
keiten aus und empfangen sie lieber in der Nacht oder am frühen Morgen,
wenn sie unbelegt ist, als daß sie auf die segensreiche Visite Verzicht leisteten.
Die Heilige fährt übrigens zu solchen Besuchen, wie der Metropolit, stets in
sechsspänniger Karosse. Ihre Postillone erscheinen unbedeckten Hauptes, und
nur im Winter gestattet ihnen das Herkommen, sich Tücher um die Köpfe zu
wickeln. Mütze oder Hut sind auch dann gegen die Etiquette. In der Kathe¬
drale der Himmelfahrt auf dem Kreml befindet sich ferner das Bild Sanct
Antiopos'. des Märtyrers, zu dem man nur zu beten braucht, um sofort vom
eingewurzeltsten Zahnweh befreit zu werden. Es gibt noch manches Bild die¬
ses guten Heiligen, aber kein Mensch würde sich zu einem andern als gerade
zu diesem wenden, um zahnärztliche Dienstleistungen zu erbitten.

Von selbst versteht sich übrigens, daß die Andächtigen nicht, wie die Kirche
vorschreibt, blos die Vermittlung der Heiligen bei Gott anrufen, sondern zu
den Heiligen selbst, wie zu Untergöttern, um Gewährung ihrer Anliegen
bitten.

Nicht so selbstverständlich ist für uns, daß die russische Kirche nur gemalte,
nicht solche Heiligenbilder duldet, weiche Statuen sind. Indeß wird das Recht
des Meißels bis zu einem gewissen Grad anerkannt, das heißt, man gestattet
Haut- und Basrelief-Darstellungen, und zwar können die ersteren im höchsten
Relief ausgeführt sein, nur dürfen sie sich nicht ganz von der Wand ablösen.
Die gemalten Bilder aber müssen nach einer bestimmten Schablone gemacht
sein, wenn sie dem orthodoxen Volte Ehrfurcht abnöthigen sollen. Sie haben
große Ähnlichkeit mit den Figuren auf Spielkarten und werden fabrikmäßig,
zum Theil von den Mönchen der Athosklöster. zum Theil in Rußland selbst
angefertigt.

Diese Heiligenbilder dienen dann zugleich als Hausgötter für das russische
Volk, und so findet man deren vom Palast bis zur elendesten Bauernhütte, in
den kleinen Dampfbooten, die zwischen Kronstäbe und Petersburg fahren, und
deren düstre Kajüten sonst kein Hausgeräth zeigen, wie in den Prachtgalerien


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[0432] der unwissenden Masse, das Bild wie das Original angesehen wird und daß namentlich gewisse Bilder eine an Götzendienst grenzende Verehrung genießen und als > mit magischen Kräften begabt gelten. Um ein Beispiel anzuführen, würde kein gottesfürchtiger Moskowit ein neues Haus beziehen, bevor das¬ selbe nicht eine Visite von dem prächtig geputzten, reich mit Juwelen besetzten Porträt der dreihändigen Iberischen Jungfrau empfangen hat, welches, vom Evangelisten Lucas gemalt, früher auf dem Berg Athos war und jetzt in einer Kapelle vor dem Thore verwahrt wird, das auf den Rothen Platz führt. Da Besuche von andern Marienbildern nicht für so wirksam gelten, so ist die Iberische Jungfrau bisweilen den ganzen Tag hindurch in Anspruch genommen, und die Frommen setzen sich lieber allen möglichen Unbequemlich¬ keiten aus und empfangen sie lieber in der Nacht oder am frühen Morgen, wenn sie unbelegt ist, als daß sie auf die segensreiche Visite Verzicht leisteten. Die Heilige fährt übrigens zu solchen Besuchen, wie der Metropolit, stets in sechsspänniger Karosse. Ihre Postillone erscheinen unbedeckten Hauptes, und nur im Winter gestattet ihnen das Herkommen, sich Tücher um die Köpfe zu wickeln. Mütze oder Hut sind auch dann gegen die Etiquette. In der Kathe¬ drale der Himmelfahrt auf dem Kreml befindet sich ferner das Bild Sanct Antiopos'. des Märtyrers, zu dem man nur zu beten braucht, um sofort vom eingewurzeltsten Zahnweh befreit zu werden. Es gibt noch manches Bild die¬ ses guten Heiligen, aber kein Mensch würde sich zu einem andern als gerade zu diesem wenden, um zahnärztliche Dienstleistungen zu erbitten. Von selbst versteht sich übrigens, daß die Andächtigen nicht, wie die Kirche vorschreibt, blos die Vermittlung der Heiligen bei Gott anrufen, sondern zu den Heiligen selbst, wie zu Untergöttern, um Gewährung ihrer Anliegen bitten. Nicht so selbstverständlich ist für uns, daß die russische Kirche nur gemalte, nicht solche Heiligenbilder duldet, weiche Statuen sind. Indeß wird das Recht des Meißels bis zu einem gewissen Grad anerkannt, das heißt, man gestattet Haut- und Basrelief-Darstellungen, und zwar können die ersteren im höchsten Relief ausgeführt sein, nur dürfen sie sich nicht ganz von der Wand ablösen. Die gemalten Bilder aber müssen nach einer bestimmten Schablone gemacht sein, wenn sie dem orthodoxen Volte Ehrfurcht abnöthigen sollen. Sie haben große Ähnlichkeit mit den Figuren auf Spielkarten und werden fabrikmäßig, zum Theil von den Mönchen der Athosklöster. zum Theil in Rußland selbst angefertigt. Diese Heiligenbilder dienen dann zugleich als Hausgötter für das russische Volk, und so findet man deren vom Palast bis zur elendesten Bauernhütte, in den kleinen Dampfbooten, die zwischen Kronstäbe und Petersburg fahren, und deren düstre Kajüten sonst kein Hausgeräth zeigen, wie in den Prachtgalerien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/432>, abgerufen am 06.01.2025.