Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.an die alte Sprache anlehne. Er vermeidet allerdings ungewöhnliche Wörter, In welcher Form man auch die Nibelungen durchlese, es liegt jetzt sehr an die alte Sprache anlehne. Er vermeidet allerdings ungewöhnliche Wörter, In welcher Form man auch die Nibelungen durchlese, es liegt jetzt sehr <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0239" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114019"/> <p xml:id="ID_688" prev="#ID_687"> an die alte Sprache anlehne. Er vermeidet allerdings ungewöhnliche Wörter,<lb/> aber was er an ihre Stelle setzt, gibt häufig den Sinn ungenau oder unrichtig<lb/> wieder und in dem glattem Vers stören Hiatus und moderne pro¬<lb/> saische Wendungen doch zu sehr. Man wird sich zuletzt bescheiden müssen, das<lb/> große Wert in der allerdings unbehilflichen Umbildung zu lese», welche Sun-<lb/> rock der mittelhochdeutschen Sprache gegeben hat. Denn die Schwierigkeiten<lb/> einer guten Übersetzung aus den alten Formen der eigenen Sprache sind un¬<lb/> überwindlich. Noch lebt der bei weitem größte Theil der alten Wörter in we¬<lb/> nig geänderten Formen, aber fast jedes Wort hat in den sechshundert Jahren<lb/> seine Bedeutung mehr oder weniger nüancirt und diese Veränderungen des<lb/> Sinnes sind häusig so feine Schattirungen, daß wir gar nicht immer im Stande<lb/> sind, durch ein anderes Wort die Veränderung auszudrücken. Und die Substi-<lb/> tuirung eines fremden Wortes oder eine Umschreibung stören wieder Rhythmus<lb/> und Reim in peinlichster Weise. Ein Beispiel für Tausende und zwar ein<lb/> .bekanntes ist das Wort „Liebe". Es bedeute! in den volksmäßigen Gedichten<lb/> des 12. und 13. Jahrhunderts in der Regel frohe Empfindung oder Lust,<lb/> keineswegs die warme Neigung, welche uns dadurch ausgedrückt wird. Es ist<lb/> in vielen Fällen nur dann möglich, denn Sinn annähernd wiederzugeben, wenn<lb/> man ..Liebe" mit „Freude" übersetzt, — obgleich auch diese Vorstellung nicht ganz<lb/> dem alten Sinne entspricht. Im solcher Bedeutung steht es in wichtiger Stelle,<lb/> am Schluß der Nibelungen, wo die Worte: -rlL le die liöbL Ivicte 2ö alwi' Mir-<lb/> gists git, zu übersetzen sind: denn immer folgt zu allerletzt aus Freude Leid.<lb/> Herr Bürger überträgt unrichtig: Wie immerdar die Liebe am Ende führt zu Leid.</p><lb/> <p xml:id="ID_689" next="#ID_690"> In welcher Form man auch die Nibelungen durchlese, es liegt jetzt sehr<lb/> nahe, dabei der großen Frage zu gedenken, welche die deutsche Philologie seit<lb/> mehr als zwanzig Jahren fast unablässig beschäftigt und wiederholt so lebhaften<lb/> Kampf der Gelehrten hervorgerufen hat, der Frage, wie das Gedicht entstanden<lb/> ist. Die Untersuchung fällt zusammen mit der über Ursprung und Fortbildung<lb/> aller epischen Volkspoesie und über die Methode des gesammten geistigen Schaft<lb/> sens in der Jugendzeit der Völker. Es ist bekannt, daß seit Wolf vornehmlich<lb/> dieser Kreis von Untersuchungen der deutschen Alterthumswissenschaft eine<lb/> eigenthümliche Physiognomie und ihren Resultaten eine Tiefe und Größe ge¬<lb/> geben hat, um die uns andere Völker beneiden mögen. Denn zuerst dadurch<lb/> wurde das Auge befähigt, tief in die geheime Werkstätte der jungen Volks¬<lb/> seele hineinzublicken, Ursprung. Wandlung und älteste Geschichte der Sprachen,<lb/> der Sitte, des Rechts, der Poesie und Kunst zu begreifen, erst seitdem wur¬<lb/> den der Wissenschaft die Völker der Erde zu lebendigen einheitlichen Orga¬<lb/> nismen mit einer geistigen Individualität, einer persönlichen Anlage und trei¬<lb/> benden Kraft. Zwischen der großen Arbeit Wolfs über Homer, den kühnen<lb/> Untersuchungen Lachmann's über die Nibelungen, der .Kritik biblischer Ueber-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0239]
an die alte Sprache anlehne. Er vermeidet allerdings ungewöhnliche Wörter,
aber was er an ihre Stelle setzt, gibt häufig den Sinn ungenau oder unrichtig
wieder und in dem glattem Vers stören Hiatus und moderne pro¬
saische Wendungen doch zu sehr. Man wird sich zuletzt bescheiden müssen, das
große Wert in der allerdings unbehilflichen Umbildung zu lese», welche Sun-
rock der mittelhochdeutschen Sprache gegeben hat. Denn die Schwierigkeiten
einer guten Übersetzung aus den alten Formen der eigenen Sprache sind un¬
überwindlich. Noch lebt der bei weitem größte Theil der alten Wörter in we¬
nig geänderten Formen, aber fast jedes Wort hat in den sechshundert Jahren
seine Bedeutung mehr oder weniger nüancirt und diese Veränderungen des
Sinnes sind häusig so feine Schattirungen, daß wir gar nicht immer im Stande
sind, durch ein anderes Wort die Veränderung auszudrücken. Und die Substi-
tuirung eines fremden Wortes oder eine Umschreibung stören wieder Rhythmus
und Reim in peinlichster Weise. Ein Beispiel für Tausende und zwar ein
.bekanntes ist das Wort „Liebe". Es bedeute! in den volksmäßigen Gedichten
des 12. und 13. Jahrhunderts in der Regel frohe Empfindung oder Lust,
keineswegs die warme Neigung, welche uns dadurch ausgedrückt wird. Es ist
in vielen Fällen nur dann möglich, denn Sinn annähernd wiederzugeben, wenn
man ..Liebe" mit „Freude" übersetzt, — obgleich auch diese Vorstellung nicht ganz
dem alten Sinne entspricht. Im solcher Bedeutung steht es in wichtiger Stelle,
am Schluß der Nibelungen, wo die Worte: -rlL le die liöbL Ivicte 2ö alwi' Mir-
gists git, zu übersetzen sind: denn immer folgt zu allerletzt aus Freude Leid.
Herr Bürger überträgt unrichtig: Wie immerdar die Liebe am Ende führt zu Leid.
In welcher Form man auch die Nibelungen durchlese, es liegt jetzt sehr
nahe, dabei der großen Frage zu gedenken, welche die deutsche Philologie seit
mehr als zwanzig Jahren fast unablässig beschäftigt und wiederholt so lebhaften
Kampf der Gelehrten hervorgerufen hat, der Frage, wie das Gedicht entstanden
ist. Die Untersuchung fällt zusammen mit der über Ursprung und Fortbildung
aller epischen Volkspoesie und über die Methode des gesammten geistigen Schaft
sens in der Jugendzeit der Völker. Es ist bekannt, daß seit Wolf vornehmlich
dieser Kreis von Untersuchungen der deutschen Alterthumswissenschaft eine
eigenthümliche Physiognomie und ihren Resultaten eine Tiefe und Größe ge¬
geben hat, um die uns andere Völker beneiden mögen. Denn zuerst dadurch
wurde das Auge befähigt, tief in die geheime Werkstätte der jungen Volks¬
seele hineinzublicken, Ursprung. Wandlung und älteste Geschichte der Sprachen,
der Sitte, des Rechts, der Poesie und Kunst zu begreifen, erst seitdem wur¬
den der Wissenschaft die Völker der Erde zu lebendigen einheitlichen Orga¬
nismen mit einer geistigen Individualität, einer persönlichen Anlage und trei¬
benden Kraft. Zwischen der großen Arbeit Wolfs über Homer, den kühnen
Untersuchungen Lachmann's über die Nibelungen, der .Kritik biblischer Ueber-
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