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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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nimmt und andrerseits die schönen Gestalten, welche dem Reiche der Phantasie
angehören, zur individuellen Erscheinung verfestigt, wenn er dazu in der Durch¬
bildung der Form Feinheit und Sicherheit "erreicht -- daß dieser Idealismus
zu der monumentalen Kunst vorzugsweise sich eignet, ist wohl kein Zweifel.
Was das oft besprochene Verhältniß ;um Realismus betrifft, so sind sich beide
Richtungen, wenn nur jede richtig verstanden und ausgeübt wird, keineswegs
entgegengesetzt. Es ist die reflectirte, absichtliche, schroffe Einseitigkeit der Künst¬
ler und die vorlaute Einmischung der Kritik, welche beide mit vielem unnützen
Gerede den Streit entzündet und immermehr angefacht haben. Beide Richtungen
kommen sich, wenn sie in die rechte Bahn einlenken, auf halbem Wege entgegen,
und es wäre an der Zeit, daß sie, die seit lange wie feindliche Brüder mit
einander hadern "den alten Haß der frühen Kinderzeit" nun endlich ab¬
thun. --

Da es uns hier darauf ankam, einige Hauptfragen, welche die neueste
Kunst beschäftigen, eingehend zu besprechen, müssen wir uns bei der Genrema¬
lerei um so kürzer fassen. Auch ist während der letzten Jahre in dieser Gat¬
tung nichts Eigenthümliches entstanden und wenig von der Art, daß es die
Werke früherer Jahrzehnte überragte. Das Sittenbild scheint im Ganzen an
demselben Zwiespalt zwischen Inhalt und Erscheinung zu leiden, der sich oben
im geschichtlichen Bilde zeigte. Einerseits hebt der Maler den Gegenstand
als solchen, den besonderen Vorgang, die geistreiche oder witzige Beziehung der
Figuren hervor, andrerseits sucht er den eigentlichen Reiz in die äußerliche Be¬
handlung zu legen und diese als das Malerische selbständig auszubilden.

Es ist oft genug wiederholt worden, daß die deutsche Kunst im Genre auf
den volksthümlichen Boden zurückgekehrt sei und damit ein neubelebendes Ele¬
ment in sich aufgenommen habe. Und allerdings hat sich hier einigen Künst¬
lern, wie Schwind und Ludwig Richter, denen die Innigkeit deutscher Empfin¬
dung in nicht gewöhnlichem Grade eigen ist, ein Gebiet aufgethan, auf welchem
sie den träumerischen Inhalt deutschen Gemüthslebens lebendig zu gestalten
vermochten; ein Gebiet indessen, das die kräftige Individualisirung und die
Farbengluth des wirklichen Daseins der Natur der Sache nach von sich aus¬
schloß. Insbesondere hat Schwind in seinen sieben Raben gezeigt, wie sich die
Phantasie- und stimmungsvolle Welt des deutschen Märchens zu Bildungen
von eigenthümlichem und tieferem Reiz verkörpern läßt. Was aber das' Sitten¬
bild im engern Sinne betrifft, das den Menschen in örtlicher und zeitlicher Be¬
stimmtheit, in seinem zuständlichen Dasein darstellt, in welchem er in das Gat¬
tungsleben der' Natur zurückversenkt und sein Inneres mit diesem gleichsam,
verwoben ist- so beweist die Gegenwart wenigstens nicht, daß sie mit
einem Inhalte, welcher der Kunst zu gute käme, durchdrungen sei. Im wahren
Sittenbilde blickt aus der einzelnen Erscheinung, selbst wenn sie in der flüchtigen


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nimmt und andrerseits die schönen Gestalten, welche dem Reiche der Phantasie
angehören, zur individuellen Erscheinung verfestigt, wenn er dazu in der Durch¬
bildung der Form Feinheit und Sicherheit "erreicht — daß dieser Idealismus
zu der monumentalen Kunst vorzugsweise sich eignet, ist wohl kein Zweifel.
Was das oft besprochene Verhältniß ;um Realismus betrifft, so sind sich beide
Richtungen, wenn nur jede richtig verstanden und ausgeübt wird, keineswegs
entgegengesetzt. Es ist die reflectirte, absichtliche, schroffe Einseitigkeit der Künst¬
ler und die vorlaute Einmischung der Kritik, welche beide mit vielem unnützen
Gerede den Streit entzündet und immermehr angefacht haben. Beide Richtungen
kommen sich, wenn sie in die rechte Bahn einlenken, auf halbem Wege entgegen,
und es wäre an der Zeit, daß sie, die seit lange wie feindliche Brüder mit
einander hadern „den alten Haß der frühen Kinderzeit" nun endlich ab¬
thun. —

Da es uns hier darauf ankam, einige Hauptfragen, welche die neueste
Kunst beschäftigen, eingehend zu besprechen, müssen wir uns bei der Genrema¬
lerei um so kürzer fassen. Auch ist während der letzten Jahre in dieser Gat¬
tung nichts Eigenthümliches entstanden und wenig von der Art, daß es die
Werke früherer Jahrzehnte überragte. Das Sittenbild scheint im Ganzen an
demselben Zwiespalt zwischen Inhalt und Erscheinung zu leiden, der sich oben
im geschichtlichen Bilde zeigte. Einerseits hebt der Maler den Gegenstand
als solchen, den besonderen Vorgang, die geistreiche oder witzige Beziehung der
Figuren hervor, andrerseits sucht er den eigentlichen Reiz in die äußerliche Be¬
handlung zu legen und diese als das Malerische selbständig auszubilden.

Es ist oft genug wiederholt worden, daß die deutsche Kunst im Genre auf
den volksthümlichen Boden zurückgekehrt sei und damit ein neubelebendes Ele¬
ment in sich aufgenommen habe. Und allerdings hat sich hier einigen Künst¬
lern, wie Schwind und Ludwig Richter, denen die Innigkeit deutscher Empfin¬
dung in nicht gewöhnlichem Grade eigen ist, ein Gebiet aufgethan, auf welchem
sie den träumerischen Inhalt deutschen Gemüthslebens lebendig zu gestalten
vermochten; ein Gebiet indessen, das die kräftige Individualisirung und die
Farbengluth des wirklichen Daseins der Natur der Sache nach von sich aus¬
schloß. Insbesondere hat Schwind in seinen sieben Raben gezeigt, wie sich die
Phantasie- und stimmungsvolle Welt des deutschen Märchens zu Bildungen
von eigenthümlichem und tieferem Reiz verkörpern läßt. Was aber das' Sitten¬
bild im engern Sinne betrifft, das den Menschen in örtlicher und zeitlicher Be¬
stimmtheit, in seinem zuständlichen Dasein darstellt, in welchem er in das Gat¬
tungsleben der' Natur zurückversenkt und sein Inneres mit diesem gleichsam,
verwoben ist- so beweist die Gegenwart wenigstens nicht, daß sie mit
einem Inhalte, welcher der Kunst zu gute käme, durchdrungen sei. Im wahren
Sittenbilde blickt aus der einzelnen Erscheinung, selbst wenn sie in der flüchtigen


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[0227] nimmt und andrerseits die schönen Gestalten, welche dem Reiche der Phantasie angehören, zur individuellen Erscheinung verfestigt, wenn er dazu in der Durch¬ bildung der Form Feinheit und Sicherheit "erreicht — daß dieser Idealismus zu der monumentalen Kunst vorzugsweise sich eignet, ist wohl kein Zweifel. Was das oft besprochene Verhältniß ;um Realismus betrifft, so sind sich beide Richtungen, wenn nur jede richtig verstanden und ausgeübt wird, keineswegs entgegengesetzt. Es ist die reflectirte, absichtliche, schroffe Einseitigkeit der Künst¬ ler und die vorlaute Einmischung der Kritik, welche beide mit vielem unnützen Gerede den Streit entzündet und immermehr angefacht haben. Beide Richtungen kommen sich, wenn sie in die rechte Bahn einlenken, auf halbem Wege entgegen, und es wäre an der Zeit, daß sie, die seit lange wie feindliche Brüder mit einander hadern „den alten Haß der frühen Kinderzeit" nun endlich ab¬ thun. — Da es uns hier darauf ankam, einige Hauptfragen, welche die neueste Kunst beschäftigen, eingehend zu besprechen, müssen wir uns bei der Genrema¬ lerei um so kürzer fassen. Auch ist während der letzten Jahre in dieser Gat¬ tung nichts Eigenthümliches entstanden und wenig von der Art, daß es die Werke früherer Jahrzehnte überragte. Das Sittenbild scheint im Ganzen an demselben Zwiespalt zwischen Inhalt und Erscheinung zu leiden, der sich oben im geschichtlichen Bilde zeigte. Einerseits hebt der Maler den Gegenstand als solchen, den besonderen Vorgang, die geistreiche oder witzige Beziehung der Figuren hervor, andrerseits sucht er den eigentlichen Reiz in die äußerliche Be¬ handlung zu legen und diese als das Malerische selbständig auszubilden. Es ist oft genug wiederholt worden, daß die deutsche Kunst im Genre auf den volksthümlichen Boden zurückgekehrt sei und damit ein neubelebendes Ele¬ ment in sich aufgenommen habe. Und allerdings hat sich hier einigen Künst¬ lern, wie Schwind und Ludwig Richter, denen die Innigkeit deutscher Empfin¬ dung in nicht gewöhnlichem Grade eigen ist, ein Gebiet aufgethan, auf welchem sie den träumerischen Inhalt deutschen Gemüthslebens lebendig zu gestalten vermochten; ein Gebiet indessen, das die kräftige Individualisirung und die Farbengluth des wirklichen Daseins der Natur der Sache nach von sich aus¬ schloß. Insbesondere hat Schwind in seinen sieben Raben gezeigt, wie sich die Phantasie- und stimmungsvolle Welt des deutschen Märchens zu Bildungen von eigenthümlichem und tieferem Reiz verkörpern läßt. Was aber das' Sitten¬ bild im engern Sinne betrifft, das den Menschen in örtlicher und zeitlicher Be¬ stimmtheit, in seinem zuständlichen Dasein darstellt, in welchem er in das Gat¬ tungsleben der' Natur zurückversenkt und sein Inneres mit diesem gleichsam, verwoben ist- so beweist die Gegenwart wenigstens nicht, daß sie mit einem Inhalte, welcher der Kunst zu gute käme, durchdrungen sei. Im wahren Sittenbilde blickt aus der einzelnen Erscheinung, selbst wenn sie in der flüchtigen 28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/227>, abgerufen am 08.01.2025.