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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Man verwechselt die stylisirte, vollkommene Form mit dem Verständniß der Form
überhaupt, begreift unter dieser nur den Fluß der Linie, die zarte Darstellung
der vollendeten, von der Realität abgewandten Gestalt und gibt mit einer ge¬
wissen Geringschätzung zu, daß dies Sache jener Richtung sei. Man sieht jetzt
überhaupt auf die dem Kampf der Wirklichkeit und der Gegensätze entrückte,
stille selige Welt der idealen Kunst herab, und indem man sich gegen ihre An¬
schauung erklärt, macht man zugleich ihrer Darstellungsweise den Proceß. Es
ist wahr, der Idealismus, der sich unwillig von der entgegenströmenden Zeit
abgekehrt, hat dies zum Theil selber verschuldet. Aus der Hohe, zu der ihn
Cornelius erhoben, hat er sich nicht zu erhalten vermocht. Was dem Meister
an Kenntniß der künstlerischen Mittel und an der Formvollendung fehlte, er¬
setzte er durch seine schöpferisch gestaltende Phantasie, welche in hohem Grade
das Vermögen hatte, die Welt der Mythe neuzubeleben und in tiefern rhyth¬
mischen Zusammenhang zu einem monumentalen Ganzen plastisch herauszubil¬
den; der zugleich wie Keiner die Gabe der künstlerisch schwungvollen Composition
besaß. Man sehe nur z. B. in der Münchener Glyptothek das Reich des Nep¬
tun, wie hier im Bereiche der Kunst eine beseelte, zu selbständiger Wirklichkeit
belebte Welt aus einer vergangenen, aber ewig schönen Anschauung aufgebaut
ist, wie in der genialen Beziehung der Bilder die alte Mythe flüssig geworden.
Man vergißt über diesen Eindrücken die abstracte Farbe und die hinter dem
Schwung der Erfindung zurückgebliebene Form. Aber Cornelius ist ohne Nach¬
folger geblieben. Die idealistische Richtung hat sich eine geraume Zeit hindurch
in abstracte Allegorien oder in eine Mythe verrannt, welche die Phantasie über¬
haupt nicht oder nicht mehr beleben kann, in die christliche; was die Form an¬
langt, so ist sie einerseits in einer schlaffen, schwammigen, charakterlosen Schön¬
heitslinie, andererseits in einer geistlosen, übertriebenen, kräftigen, man möchte
sagen, kolossalen Charakteristik stecken geblieben.

Aber auch diese Richtung geht vorüber, und die Gegenwart kann eine --
allerdings nur kleine -- Anzahl von Künstlern aufweisen, welche die Kunst als die
Welt der Schönheit ansehen und an einer idealen Anschauung festhalten, ohne
die mannigfach bestimmte und individuell gebildete Erscheinung auszuschließen.
Ja die Zeit selber schein: sich nicht mehr so spröde wie bisher vom Idealis¬
mus abzuwenden: hie und da thut sich ein gewisser Ueberdruß an den Leich¬
namen und "ewigen Reiterstiefeln" tund und allmälig wird die Ansicht laut,
daß nicht ausschließlich der in den unruhigen Conflict der Gegensätze verstrickten
Wirklichkeit das Recht zukomme, gemalt zu werden. Allerdings hat nun seiner¬
seits der Idealismus den Forderungen der Zeit entgegen zu kommen, er ha.t
sich mit ihrer Borstellungsweise zu durchdringen, soweit dies seine Natur zu¬
läßt. So mag er die Ideen, welche jene bewegen und erfüllen, mit seinen
Mitteln, in dem Kreise der ihm eigenthümlichen Anschauungen darstellen; vor


Man verwechselt die stylisirte, vollkommene Form mit dem Verständniß der Form
überhaupt, begreift unter dieser nur den Fluß der Linie, die zarte Darstellung
der vollendeten, von der Realität abgewandten Gestalt und gibt mit einer ge¬
wissen Geringschätzung zu, daß dies Sache jener Richtung sei. Man sieht jetzt
überhaupt auf die dem Kampf der Wirklichkeit und der Gegensätze entrückte,
stille selige Welt der idealen Kunst herab, und indem man sich gegen ihre An¬
schauung erklärt, macht man zugleich ihrer Darstellungsweise den Proceß. Es
ist wahr, der Idealismus, der sich unwillig von der entgegenströmenden Zeit
abgekehrt, hat dies zum Theil selber verschuldet. Aus der Hohe, zu der ihn
Cornelius erhoben, hat er sich nicht zu erhalten vermocht. Was dem Meister
an Kenntniß der künstlerischen Mittel und an der Formvollendung fehlte, er¬
setzte er durch seine schöpferisch gestaltende Phantasie, welche in hohem Grade
das Vermögen hatte, die Welt der Mythe neuzubeleben und in tiefern rhyth¬
mischen Zusammenhang zu einem monumentalen Ganzen plastisch herauszubil¬
den; der zugleich wie Keiner die Gabe der künstlerisch schwungvollen Composition
besaß. Man sehe nur z. B. in der Münchener Glyptothek das Reich des Nep¬
tun, wie hier im Bereiche der Kunst eine beseelte, zu selbständiger Wirklichkeit
belebte Welt aus einer vergangenen, aber ewig schönen Anschauung aufgebaut
ist, wie in der genialen Beziehung der Bilder die alte Mythe flüssig geworden.
Man vergißt über diesen Eindrücken die abstracte Farbe und die hinter dem
Schwung der Erfindung zurückgebliebene Form. Aber Cornelius ist ohne Nach¬
folger geblieben. Die idealistische Richtung hat sich eine geraume Zeit hindurch
in abstracte Allegorien oder in eine Mythe verrannt, welche die Phantasie über¬
haupt nicht oder nicht mehr beleben kann, in die christliche; was die Form an¬
langt, so ist sie einerseits in einer schlaffen, schwammigen, charakterlosen Schön¬
heitslinie, andererseits in einer geistlosen, übertriebenen, kräftigen, man möchte
sagen, kolossalen Charakteristik stecken geblieben.

Aber auch diese Richtung geht vorüber, und die Gegenwart kann eine —
allerdings nur kleine — Anzahl von Künstlern aufweisen, welche die Kunst als die
Welt der Schönheit ansehen und an einer idealen Anschauung festhalten, ohne
die mannigfach bestimmte und individuell gebildete Erscheinung auszuschließen.
Ja die Zeit selber schein: sich nicht mehr so spröde wie bisher vom Idealis¬
mus abzuwenden: hie und da thut sich ein gewisser Ueberdruß an den Leich¬
namen und „ewigen Reiterstiefeln" tund und allmälig wird die Ansicht laut,
daß nicht ausschließlich der in den unruhigen Conflict der Gegensätze verstrickten
Wirklichkeit das Recht zukomme, gemalt zu werden. Allerdings hat nun seiner¬
seits der Idealismus den Forderungen der Zeit entgegen zu kommen, er ha.t
sich mit ihrer Borstellungsweise zu durchdringen, soweit dies seine Natur zu¬
läßt. So mag er die Ideen, welche jene bewegen und erfüllen, mit seinen
Mitteln, in dem Kreise der ihm eigenthümlichen Anschauungen darstellen; vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/223>, abgerufen am 08.01.2025.