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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Andere eigenthümliche Erscheinungen, welche der Krieg hervorbrachte, sind
wieder aus dem Umstand zu erklären, daß der große Verderb sich allmälig voll¬
zog, daß er den dritten Theil eines Jahrhunderts, eine ganze Generation le¬
bender Menschen umfaßte, und daß er nicht in dem letzten Jahre des Krieges
seine größte Höhe erreichte, sondern etwa sieben Jahre vorher, so daß die Zu¬
stände der Landschaften bei Verkündigung des westphälischen Friedens nicht
mehr genau die tiefste Niederlage der Volkskraft bezeichnen. Zumal diese
Thatsache hat, so scheint es, den Geschichtschreibern zuweilen das Urtheil über
die Cultureinwirkungen des Krieges getrübt. Sie fanden im Jahre 1649 in
mehreren Landschaften bereits die ersten schwachen Anfänge einer besseren Zeit,
in den größern Städten eine regelmäßige Arbeit und Verwaltung, kein neues
Aufblühen, aber doch ein geordnetes Vegetiren in den alten Gewohnheiten,
und sie wurden geneigt, anzunehmen, daß die Verwüstung doch nicht so groß
gewesen sei, als die verzweifelte Klage einzelner Zeitgenossen behauptete.

Und ferner, das Allmälige der Verwüstung nahm auch den Klagen des lebenden
Geschlechtes einen Theil der Gewalt und Größe, welche wir erwarten. Nur wenigeder
Männer, welche nach dem Jahre 164V als lebende Zeugen von dem Kriege be¬
richteten, hatten ein lebhaftes Bild von den socialen Zuständen vor 1618 be¬
wahrt. Ein Mann mußte fast 60 Jahre alt sein, wenn er bereits in voller
Kraft und fester bürgerlicher Stellung gewesen war, als das Unglück über Deutsch¬
land hereinbrach. Kaum einer scheint sich das Bild des frühern Wohlstandes un¬
versehrt und mit reichlichem Detail bewahrt zu haben. Und das wird begreiflich,
wenn man erwägt, daß die Verwüstungen der dreißig Jahre sich kaum Einem
so geordnet und systematisch, wie jetzt uns, als eine Folge der Kriegsnvth dar¬
stellten. In manchen Landschaften war die Zerstörung durch die Heere selbst
erst kurz vor 1630, in einzelnen noch später fühlbar geworden. Die Geldnoth
um 1621, die Verwilderung der Sitten seit 1625, sogar die verheerenden Krank¬
heiten, Theuerung und Hungersnoth erschienen den Einzelnen nicht immer als
directe Folge des Krieges. Sie selbst waren allmälig mit ihren Gemeindewesen
eingeschrumpft, sie waren härter und gleichgiltiger; was im Jahre 1618 schreck¬
lich und unerhört erschien, war ihnen so zur Gewohnheit geworden, daß' sie
in ihren Berichten nur wenige Worte darüber verlieren. Niedergebrannte Dörfer,
verhungernde Menschen. Räuber in den Wäldern und in den zerstörten Hütten
der Bauern waren so häufig, daß nur gelegentliche Erwähnung uns von
der Größe dieses Unheils Kenntniß gibt. Zwar fehlt es durchaus nicht an
Schilderungen über die Leiden des Krieges, die Theologen ergehen sich vor
und nach dem Friedensfest gern in Betrachtungen darüber, ungezählt sind
die Aufzeichnungen von Privatleuten über die Drangsale, welche sie selbst und
ihre Stadt erduldet. Aber wie beredt die erbaulichen Betrachtungen und wie
erschütternd die Schilderungen auch sind, welche sie uns hinterlassen haben, fast


Andere eigenthümliche Erscheinungen, welche der Krieg hervorbrachte, sind
wieder aus dem Umstand zu erklären, daß der große Verderb sich allmälig voll¬
zog, daß er den dritten Theil eines Jahrhunderts, eine ganze Generation le¬
bender Menschen umfaßte, und daß er nicht in dem letzten Jahre des Krieges
seine größte Höhe erreichte, sondern etwa sieben Jahre vorher, so daß die Zu¬
stände der Landschaften bei Verkündigung des westphälischen Friedens nicht
mehr genau die tiefste Niederlage der Volkskraft bezeichnen. Zumal diese
Thatsache hat, so scheint es, den Geschichtschreibern zuweilen das Urtheil über
die Cultureinwirkungen des Krieges getrübt. Sie fanden im Jahre 1649 in
mehreren Landschaften bereits die ersten schwachen Anfänge einer besseren Zeit,
in den größern Städten eine regelmäßige Arbeit und Verwaltung, kein neues
Aufblühen, aber doch ein geordnetes Vegetiren in den alten Gewohnheiten,
und sie wurden geneigt, anzunehmen, daß die Verwüstung doch nicht so groß
gewesen sei, als die verzweifelte Klage einzelner Zeitgenossen behauptete.

Und ferner, das Allmälige der Verwüstung nahm auch den Klagen des lebenden
Geschlechtes einen Theil der Gewalt und Größe, welche wir erwarten. Nur wenigeder
Männer, welche nach dem Jahre 164V als lebende Zeugen von dem Kriege be¬
richteten, hatten ein lebhaftes Bild von den socialen Zuständen vor 1618 be¬
wahrt. Ein Mann mußte fast 60 Jahre alt sein, wenn er bereits in voller
Kraft und fester bürgerlicher Stellung gewesen war, als das Unglück über Deutsch¬
land hereinbrach. Kaum einer scheint sich das Bild des frühern Wohlstandes un¬
versehrt und mit reichlichem Detail bewahrt zu haben. Und das wird begreiflich,
wenn man erwägt, daß die Verwüstungen der dreißig Jahre sich kaum Einem
so geordnet und systematisch, wie jetzt uns, als eine Folge der Kriegsnvth dar¬
stellten. In manchen Landschaften war die Zerstörung durch die Heere selbst
erst kurz vor 1630, in einzelnen noch später fühlbar geworden. Die Geldnoth
um 1621, die Verwilderung der Sitten seit 1625, sogar die verheerenden Krank¬
heiten, Theuerung und Hungersnoth erschienen den Einzelnen nicht immer als
directe Folge des Krieges. Sie selbst waren allmälig mit ihren Gemeindewesen
eingeschrumpft, sie waren härter und gleichgiltiger; was im Jahre 1618 schreck¬
lich und unerhört erschien, war ihnen so zur Gewohnheit geworden, daß' sie
in ihren Berichten nur wenige Worte darüber verlieren. Niedergebrannte Dörfer,
verhungernde Menschen. Räuber in den Wäldern und in den zerstörten Hütten
der Bauern waren so häufig, daß nur gelegentliche Erwähnung uns von
der Größe dieses Unheils Kenntniß gibt. Zwar fehlt es durchaus nicht an
Schilderungen über die Leiden des Krieges, die Theologen ergehen sich vor
und nach dem Friedensfest gern in Betrachtungen darüber, ungezählt sind
die Aufzeichnungen von Privatleuten über die Drangsale, welche sie selbst und
ihre Stadt erduldet. Aber wie beredt die erbaulichen Betrachtungen und wie
erschütternd die Schilderungen auch sind, welche sie uns hinterlassen haben, fast


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[0151] Andere eigenthümliche Erscheinungen, welche der Krieg hervorbrachte, sind wieder aus dem Umstand zu erklären, daß der große Verderb sich allmälig voll¬ zog, daß er den dritten Theil eines Jahrhunderts, eine ganze Generation le¬ bender Menschen umfaßte, und daß er nicht in dem letzten Jahre des Krieges seine größte Höhe erreichte, sondern etwa sieben Jahre vorher, so daß die Zu¬ stände der Landschaften bei Verkündigung des westphälischen Friedens nicht mehr genau die tiefste Niederlage der Volkskraft bezeichnen. Zumal diese Thatsache hat, so scheint es, den Geschichtschreibern zuweilen das Urtheil über die Cultureinwirkungen des Krieges getrübt. Sie fanden im Jahre 1649 in mehreren Landschaften bereits die ersten schwachen Anfänge einer besseren Zeit, in den größern Städten eine regelmäßige Arbeit und Verwaltung, kein neues Aufblühen, aber doch ein geordnetes Vegetiren in den alten Gewohnheiten, und sie wurden geneigt, anzunehmen, daß die Verwüstung doch nicht so groß gewesen sei, als die verzweifelte Klage einzelner Zeitgenossen behauptete. Und ferner, das Allmälige der Verwüstung nahm auch den Klagen des lebenden Geschlechtes einen Theil der Gewalt und Größe, welche wir erwarten. Nur wenigeder Männer, welche nach dem Jahre 164V als lebende Zeugen von dem Kriege be¬ richteten, hatten ein lebhaftes Bild von den socialen Zuständen vor 1618 be¬ wahrt. Ein Mann mußte fast 60 Jahre alt sein, wenn er bereits in voller Kraft und fester bürgerlicher Stellung gewesen war, als das Unglück über Deutsch¬ land hereinbrach. Kaum einer scheint sich das Bild des frühern Wohlstandes un¬ versehrt und mit reichlichem Detail bewahrt zu haben. Und das wird begreiflich, wenn man erwägt, daß die Verwüstungen der dreißig Jahre sich kaum Einem so geordnet und systematisch, wie jetzt uns, als eine Folge der Kriegsnvth dar¬ stellten. In manchen Landschaften war die Zerstörung durch die Heere selbst erst kurz vor 1630, in einzelnen noch später fühlbar geworden. Die Geldnoth um 1621, die Verwilderung der Sitten seit 1625, sogar die verheerenden Krank¬ heiten, Theuerung und Hungersnoth erschienen den Einzelnen nicht immer als directe Folge des Krieges. Sie selbst waren allmälig mit ihren Gemeindewesen eingeschrumpft, sie waren härter und gleichgiltiger; was im Jahre 1618 schreck¬ lich und unerhört erschien, war ihnen so zur Gewohnheit geworden, daß' sie in ihren Berichten nur wenige Worte darüber verlieren. Niedergebrannte Dörfer, verhungernde Menschen. Räuber in den Wäldern und in den zerstörten Hütten der Bauern waren so häufig, daß nur gelegentliche Erwähnung uns von der Größe dieses Unheils Kenntniß gibt. Zwar fehlt es durchaus nicht an Schilderungen über die Leiden des Krieges, die Theologen ergehen sich vor und nach dem Friedensfest gern in Betrachtungen darüber, ungezählt sind die Aufzeichnungen von Privatleuten über die Drangsale, welche sie selbst und ihre Stadt erduldet. Aber wie beredt die erbaulichen Betrachtungen und wie erschütternd die Schilderungen auch sind, welche sie uns hinterlassen haben, fast

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/151>, abgerufen am 08.01.2025.