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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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einige Monate in socialer und moralischer Auflösung leben müssen, aber die
benachbarten Landschaften würden sich zu ihrer eigenen Sicherheit beeilen, von
dein verödeten Gebiet Besitz zu nehmen, und eine massenhafte Einwanderung
könnte nach wenigen Jahrzehnten den Verlust ersetzen. Wenn aber eine große
Nation in blutigem Kriegsgetümmel bis auf ein Drittel, ja bis auf ein Viertel
ihres frühern Bestandes herabsinkt, so erscheint wohl unerklärlich, daß sie
als Nation eine Selbstständigkeit zu bewahren vermochte, daß der Zerstörungs¬
proceß überhaupt noch durch geistige Gewalten gebändigt werden konnte, daß
er nicht alle Bande zerriß, jede Zucht und Gesetzlichkeit aufhob, und daß er
dem späten Frieden noch lebensfähige Zustände, Gemeinden und Staaten zu¬
rückließ. Und dieses Bedenken wird noch bei Betrachtung einzelner Er¬
scheinungen des dreißigjährigen Krieges gesteigert. Dicht neben der Zerstörung
erkennen wir nicht selten ein friedliches Hängen am Tage, ein Fortleben fast
in alter Weise, nicht nur bei Fürsten, auch bei Privatleuten. Die Tafel der
Wohlhabenden ist fast reicher besetzt als früher, wer die Mittel hat, schätzt eine
elegante Kleidung höher als sonst, schneller wechseln die Moden, neue Ge¬
genstände des Luxus, neue Seidenstoffe, die Spitzen und Goldstickereien ver¬
breiten sich, die Haartracht wird gerade bei diesem Geschlecht im Küraß und
Kriegshut künstlicher, das Tabakrauchen wird allgemein, freilich auch der Genuß
des Branntweins; feine Weine werden häufiger begehrt, sie dringen auch in
die gesellschaftlichen Zusammenkünfte der Stadtbürger. Ja, auch würdigere Be¬
strebungen hören nicht auf. Privatleute, wilde Kriegsherren und Fürsten er¬
scheinen als eifrige Sammler von Kunstwerken, Gemälden, Münzen, von seltenen
Kostbarkeiten, schön ausgelegter Holzarbeit. Große, immerhin kostspielige Werke
erscheinen im deutschen Buchhandel, die zierlichen Kupferstiche und Sammelwerke des
ältern Merian finden Bewunderer und Käufer, eine neue kunstvolle Dichtkunst wächst
in dem Kriege herauf, die gelehrte Beschäftigung,mit deutscher Sprache beginnt,
Poesie und schöne Wissenschaften werden mit vaterländischen Sinn in großen
Gesellschaften gepflegt. Ja, sogar einzelne Producte der Fabrikthätigkcit werden
in dieser Zeit besser, z. B. das Papier. Es befremdet, gerade nach der schreck¬
lichen Zeit des Krieges, in seinem letzten Decennium bei Staatsschriften, zuweilen
auch bei kleinen Büchern, besseres Papier zu finden, als die zahllosen Staats-
schriften der kaiserlichen und böhmischen Partei im Anfange des Krieges ge¬
zeigt haben.

Sieht man freilich näher zu, so schwindet in der Regel der Widerspruch,
und hinter dem scheinbaren Gedeihen einzelner Lebensäußerungen des Volkes
wird vielleicht grade der tiefste Verfall sichtbar. Es sei gestattet, das Druck¬
papier als ein solches Beispiel anzuführen. Lange nach Erfindung des
Bücherdrucks war ein festes, starkes Papier von grober faseriger Textur allge¬
mein gewesen. Die selbstgesponnene Leinwand der Bauer- und Bürgerwäsche


einige Monate in socialer und moralischer Auflösung leben müssen, aber die
benachbarten Landschaften würden sich zu ihrer eigenen Sicherheit beeilen, von
dein verödeten Gebiet Besitz zu nehmen, und eine massenhafte Einwanderung
könnte nach wenigen Jahrzehnten den Verlust ersetzen. Wenn aber eine große
Nation in blutigem Kriegsgetümmel bis auf ein Drittel, ja bis auf ein Viertel
ihres frühern Bestandes herabsinkt, so erscheint wohl unerklärlich, daß sie
als Nation eine Selbstständigkeit zu bewahren vermochte, daß der Zerstörungs¬
proceß überhaupt noch durch geistige Gewalten gebändigt werden konnte, daß
er nicht alle Bande zerriß, jede Zucht und Gesetzlichkeit aufhob, und daß er
dem späten Frieden noch lebensfähige Zustände, Gemeinden und Staaten zu¬
rückließ. Und dieses Bedenken wird noch bei Betrachtung einzelner Er¬
scheinungen des dreißigjährigen Krieges gesteigert. Dicht neben der Zerstörung
erkennen wir nicht selten ein friedliches Hängen am Tage, ein Fortleben fast
in alter Weise, nicht nur bei Fürsten, auch bei Privatleuten. Die Tafel der
Wohlhabenden ist fast reicher besetzt als früher, wer die Mittel hat, schätzt eine
elegante Kleidung höher als sonst, schneller wechseln die Moden, neue Ge¬
genstände des Luxus, neue Seidenstoffe, die Spitzen und Goldstickereien ver¬
breiten sich, die Haartracht wird gerade bei diesem Geschlecht im Küraß und
Kriegshut künstlicher, das Tabakrauchen wird allgemein, freilich auch der Genuß
des Branntweins; feine Weine werden häufiger begehrt, sie dringen auch in
die gesellschaftlichen Zusammenkünfte der Stadtbürger. Ja, auch würdigere Be¬
strebungen hören nicht auf. Privatleute, wilde Kriegsherren und Fürsten er¬
scheinen als eifrige Sammler von Kunstwerken, Gemälden, Münzen, von seltenen
Kostbarkeiten, schön ausgelegter Holzarbeit. Große, immerhin kostspielige Werke
erscheinen im deutschen Buchhandel, die zierlichen Kupferstiche und Sammelwerke des
ältern Merian finden Bewunderer und Käufer, eine neue kunstvolle Dichtkunst wächst
in dem Kriege herauf, die gelehrte Beschäftigung,mit deutscher Sprache beginnt,
Poesie und schöne Wissenschaften werden mit vaterländischen Sinn in großen
Gesellschaften gepflegt. Ja, sogar einzelne Producte der Fabrikthätigkcit werden
in dieser Zeit besser, z. B. das Papier. Es befremdet, gerade nach der schreck¬
lichen Zeit des Krieges, in seinem letzten Decennium bei Staatsschriften, zuweilen
auch bei kleinen Büchern, besseres Papier zu finden, als die zahllosen Staats-
schriften der kaiserlichen und böhmischen Partei im Anfange des Krieges ge¬
zeigt haben.

Sieht man freilich näher zu, so schwindet in der Regel der Widerspruch,
und hinter dem scheinbaren Gedeihen einzelner Lebensäußerungen des Volkes
wird vielleicht grade der tiefste Verfall sichtbar. Es sei gestattet, das Druck¬
papier als ein solches Beispiel anzuführen. Lange nach Erfindung des
Bücherdrucks war ein festes, starkes Papier von grober faseriger Textur allge¬
mein gewesen. Die selbstgesponnene Leinwand der Bauer- und Bürgerwäsche


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[0149] einige Monate in socialer und moralischer Auflösung leben müssen, aber die benachbarten Landschaften würden sich zu ihrer eigenen Sicherheit beeilen, von dein verödeten Gebiet Besitz zu nehmen, und eine massenhafte Einwanderung könnte nach wenigen Jahrzehnten den Verlust ersetzen. Wenn aber eine große Nation in blutigem Kriegsgetümmel bis auf ein Drittel, ja bis auf ein Viertel ihres frühern Bestandes herabsinkt, so erscheint wohl unerklärlich, daß sie als Nation eine Selbstständigkeit zu bewahren vermochte, daß der Zerstörungs¬ proceß überhaupt noch durch geistige Gewalten gebändigt werden konnte, daß er nicht alle Bande zerriß, jede Zucht und Gesetzlichkeit aufhob, und daß er dem späten Frieden noch lebensfähige Zustände, Gemeinden und Staaten zu¬ rückließ. Und dieses Bedenken wird noch bei Betrachtung einzelner Er¬ scheinungen des dreißigjährigen Krieges gesteigert. Dicht neben der Zerstörung erkennen wir nicht selten ein friedliches Hängen am Tage, ein Fortleben fast in alter Weise, nicht nur bei Fürsten, auch bei Privatleuten. Die Tafel der Wohlhabenden ist fast reicher besetzt als früher, wer die Mittel hat, schätzt eine elegante Kleidung höher als sonst, schneller wechseln die Moden, neue Ge¬ genstände des Luxus, neue Seidenstoffe, die Spitzen und Goldstickereien ver¬ breiten sich, die Haartracht wird gerade bei diesem Geschlecht im Küraß und Kriegshut künstlicher, das Tabakrauchen wird allgemein, freilich auch der Genuß des Branntweins; feine Weine werden häufiger begehrt, sie dringen auch in die gesellschaftlichen Zusammenkünfte der Stadtbürger. Ja, auch würdigere Be¬ strebungen hören nicht auf. Privatleute, wilde Kriegsherren und Fürsten er¬ scheinen als eifrige Sammler von Kunstwerken, Gemälden, Münzen, von seltenen Kostbarkeiten, schön ausgelegter Holzarbeit. Große, immerhin kostspielige Werke erscheinen im deutschen Buchhandel, die zierlichen Kupferstiche und Sammelwerke des ältern Merian finden Bewunderer und Käufer, eine neue kunstvolle Dichtkunst wächst in dem Kriege herauf, die gelehrte Beschäftigung,mit deutscher Sprache beginnt, Poesie und schöne Wissenschaften werden mit vaterländischen Sinn in großen Gesellschaften gepflegt. Ja, sogar einzelne Producte der Fabrikthätigkcit werden in dieser Zeit besser, z. B. das Papier. Es befremdet, gerade nach der schreck¬ lichen Zeit des Krieges, in seinem letzten Decennium bei Staatsschriften, zuweilen auch bei kleinen Büchern, besseres Papier zu finden, als die zahllosen Staats- schriften der kaiserlichen und böhmischen Partei im Anfange des Krieges ge¬ zeigt haben. Sieht man freilich näher zu, so schwindet in der Regel der Widerspruch, und hinter dem scheinbaren Gedeihen einzelner Lebensäußerungen des Volkes wird vielleicht grade der tiefste Verfall sichtbar. Es sei gestattet, das Druck¬ papier als ein solches Beispiel anzuführen. Lange nach Erfindung des Bücherdrucks war ein festes, starkes Papier von grober faseriger Textur allge¬ mein gewesen. Die selbstgesponnene Leinwand der Bauer- und Bürgerwäsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/149>, abgerufen am 06.01.2025.