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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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die heilige Allianz in Folge der vordringenden Politik des Kaisers Nikolaus immer¬
hin gelockert sein; sie bestand doch noch mit ihren Ansprüchen und tendenziösen
Jnterventionsbestrebungen; und es ließ sich leicht berechnen, daß das neue Frank¬
reich sich in den bedeutendsten Fragen mehr zu England, als zu den Continen-
talmächten hinneigen würde.

Auch Preußen und Oestreich waren nicht bestrebt, der neuen Regierung Hin¬
dernisse in den Weg zu legen. So empfindlich ihnen der Sturz der Bourbonen
war, so erwünscht mußte es ihnen doch sein, daß das neue Regiment sich rasch
consolidirte und wenigstens gegen die kriegerischen und weltstürmenden Gelüste
der Propaganda Schutz bot. Besonders der König Friedrich Wilhelm der
Dritte und der Fürst Wittgenstein waren nach den französischen Gesandtschafts¬
berichten,' auf die Guizots Darstellung sich stützt, bereit, zwar nicht innige, aber
doch freundliche und wohlwollende Beziehungen und Ludwig Philipp's Regie¬
rung anzuknüpfen.

Basson, der französische Gesandte, scheint die Berliner Verhältnisse im Gan¬
zen richtig zu beurtheilen; dennoch ist es sehr zu bedauern, daß unsre Kenntniß
des Details jener Periode fast ausschließlich auf französischen und englischen
Berichten beruht. Selten, daß sich uns die Gelegenheit bietet, der fremden
Darstellung zeitgenössischer Begebenheiten eine archivalisch begründete vater¬
ländische Anschauung entgegenzustellen! Wie lange ist nicht unsre Auffassung der
Revolutionszeit von 1789 ausschließlich von französischen Anschauungen beherrscht
worden! Und ein wie ganz anderes Bild haben wir von jener Periode gewon¬
nen, seit deutschen Forschern der Zugang zu deutschen Archiven gestattet
worden ist!

In Wien boten sich einem guten Einvernehmen schon größere Schwierig¬
keiten dar. Der Kaiser Franz der Zweite, der, wie ja auch von deutschen Ge¬
schichtschreibern nachgewiesen ist, in den Staatsangelegenheiten seinen Einfluß
weit mehr geltend machte, als man es lange Zeit geglaubt hat. hatte einen
tiefen Widerwillen gegen jede aus einer Volksbewegung hervorgegangene libe¬
rale Regierung. Metternich, obwohl er die fanatische Abneigung des Kaisers
gegen liberale Formen nicht unbedingt theilte und auch zu zaghaft besonnen,
zu kühl berechnend, vielleicht auch zu oberflächlich und blasirt war, um sich mi
Leidenschaft einer exclusiver Tendenzpolitik hinzugeben, war doch auf der andern
Seite zu ängstlich besorgt für die stritte Aufrechterhaltung der Tractate von 1815,
als daß ihn die Julirevolution nicht mit der lebhaftesten Unruhe hätte erfüllen
sollen. Dabei war sein Vertrauen auf die Dauer der in Europa bestehenden
Zustände nur gering. Nach seinen Aeußerungen, die, wenn er auch oft seine
Besorgnisse, absichtlich etwas übertrieb, doch im Ganzen der Ausdruck seiner
Ueberzeugung sind, stand ganz Europa über einem Vulkan; wer konnte berechnen,
zu welchen weiteren Erschütterungen der erste Ausbruch führen würde? Grade


die heilige Allianz in Folge der vordringenden Politik des Kaisers Nikolaus immer¬
hin gelockert sein; sie bestand doch noch mit ihren Ansprüchen und tendenziösen
Jnterventionsbestrebungen; und es ließ sich leicht berechnen, daß das neue Frank¬
reich sich in den bedeutendsten Fragen mehr zu England, als zu den Continen-
talmächten hinneigen würde.

Auch Preußen und Oestreich waren nicht bestrebt, der neuen Regierung Hin¬
dernisse in den Weg zu legen. So empfindlich ihnen der Sturz der Bourbonen
war, so erwünscht mußte es ihnen doch sein, daß das neue Regiment sich rasch
consolidirte und wenigstens gegen die kriegerischen und weltstürmenden Gelüste
der Propaganda Schutz bot. Besonders der König Friedrich Wilhelm der
Dritte und der Fürst Wittgenstein waren nach den französischen Gesandtschafts¬
berichten,' auf die Guizots Darstellung sich stützt, bereit, zwar nicht innige, aber
doch freundliche und wohlwollende Beziehungen und Ludwig Philipp's Regie¬
rung anzuknüpfen.

Basson, der französische Gesandte, scheint die Berliner Verhältnisse im Gan¬
zen richtig zu beurtheilen; dennoch ist es sehr zu bedauern, daß unsre Kenntniß
des Details jener Periode fast ausschließlich auf französischen und englischen
Berichten beruht. Selten, daß sich uns die Gelegenheit bietet, der fremden
Darstellung zeitgenössischer Begebenheiten eine archivalisch begründete vater¬
ländische Anschauung entgegenzustellen! Wie lange ist nicht unsre Auffassung der
Revolutionszeit von 1789 ausschließlich von französischen Anschauungen beherrscht
worden! Und ein wie ganz anderes Bild haben wir von jener Periode gewon¬
nen, seit deutschen Forschern der Zugang zu deutschen Archiven gestattet
worden ist!

In Wien boten sich einem guten Einvernehmen schon größere Schwierig¬
keiten dar. Der Kaiser Franz der Zweite, der, wie ja auch von deutschen Ge¬
schichtschreibern nachgewiesen ist, in den Staatsangelegenheiten seinen Einfluß
weit mehr geltend machte, als man es lange Zeit geglaubt hat. hatte einen
tiefen Widerwillen gegen jede aus einer Volksbewegung hervorgegangene libe¬
rale Regierung. Metternich, obwohl er die fanatische Abneigung des Kaisers
gegen liberale Formen nicht unbedingt theilte und auch zu zaghaft besonnen,
zu kühl berechnend, vielleicht auch zu oberflächlich und blasirt war, um sich mi
Leidenschaft einer exclusiver Tendenzpolitik hinzugeben, war doch auf der andern
Seite zu ängstlich besorgt für die stritte Aufrechterhaltung der Tractate von 1815,
als daß ihn die Julirevolution nicht mit der lebhaftesten Unruhe hätte erfüllen
sollen. Dabei war sein Vertrauen auf die Dauer der in Europa bestehenden
Zustände nur gering. Nach seinen Aeußerungen, die, wenn er auch oft seine
Besorgnisse, absichtlich etwas übertrieb, doch im Ganzen der Ausdruck seiner
Ueberzeugung sind, stand ganz Europa über einem Vulkan; wer konnte berechnen,
zu welchen weiteren Erschütterungen der erste Ausbruch führen würde? Grade


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[0520] die heilige Allianz in Folge der vordringenden Politik des Kaisers Nikolaus immer¬ hin gelockert sein; sie bestand doch noch mit ihren Ansprüchen und tendenziösen Jnterventionsbestrebungen; und es ließ sich leicht berechnen, daß das neue Frank¬ reich sich in den bedeutendsten Fragen mehr zu England, als zu den Continen- talmächten hinneigen würde. Auch Preußen und Oestreich waren nicht bestrebt, der neuen Regierung Hin¬ dernisse in den Weg zu legen. So empfindlich ihnen der Sturz der Bourbonen war, so erwünscht mußte es ihnen doch sein, daß das neue Regiment sich rasch consolidirte und wenigstens gegen die kriegerischen und weltstürmenden Gelüste der Propaganda Schutz bot. Besonders der König Friedrich Wilhelm der Dritte und der Fürst Wittgenstein waren nach den französischen Gesandtschafts¬ berichten,' auf die Guizots Darstellung sich stützt, bereit, zwar nicht innige, aber doch freundliche und wohlwollende Beziehungen und Ludwig Philipp's Regie¬ rung anzuknüpfen. Basson, der französische Gesandte, scheint die Berliner Verhältnisse im Gan¬ zen richtig zu beurtheilen; dennoch ist es sehr zu bedauern, daß unsre Kenntniß des Details jener Periode fast ausschließlich auf französischen und englischen Berichten beruht. Selten, daß sich uns die Gelegenheit bietet, der fremden Darstellung zeitgenössischer Begebenheiten eine archivalisch begründete vater¬ ländische Anschauung entgegenzustellen! Wie lange ist nicht unsre Auffassung der Revolutionszeit von 1789 ausschließlich von französischen Anschauungen beherrscht worden! Und ein wie ganz anderes Bild haben wir von jener Periode gewon¬ nen, seit deutschen Forschern der Zugang zu deutschen Archiven gestattet worden ist! In Wien boten sich einem guten Einvernehmen schon größere Schwierig¬ keiten dar. Der Kaiser Franz der Zweite, der, wie ja auch von deutschen Ge¬ schichtschreibern nachgewiesen ist, in den Staatsangelegenheiten seinen Einfluß weit mehr geltend machte, als man es lange Zeit geglaubt hat. hatte einen tiefen Widerwillen gegen jede aus einer Volksbewegung hervorgegangene libe¬ rale Regierung. Metternich, obwohl er die fanatische Abneigung des Kaisers gegen liberale Formen nicht unbedingt theilte und auch zu zaghaft besonnen, zu kühl berechnend, vielleicht auch zu oberflächlich und blasirt war, um sich mi Leidenschaft einer exclusiver Tendenzpolitik hinzugeben, war doch auf der andern Seite zu ängstlich besorgt für die stritte Aufrechterhaltung der Tractate von 1815, als daß ihn die Julirevolution nicht mit der lebhaftesten Unruhe hätte erfüllen sollen. Dabei war sein Vertrauen auf die Dauer der in Europa bestehenden Zustände nur gering. Nach seinen Aeußerungen, die, wenn er auch oft seine Besorgnisse, absichtlich etwas übertrieb, doch im Ganzen der Ausdruck seiner Ueberzeugung sind, stand ganz Europa über einem Vulkan; wer konnte berechnen, zu welchen weiteren Erschütterungen der erste Ausbruch führen würde? Grade

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/520>, abgerufen am 28.12.2024.