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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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in die Routine und die Gewohnheiten einer systematischen Opposition hinein¬
gelebt, schwebten also in der augenscheinlichsten Gefahr, auch wider ihren Wil¬
len den ausschweifendsten revolutionären Tendenzen dienstbar zu werden: Ten¬
denzen, die sich vielfach nicht blos an die Traditionen von 1^89, sondern auch
an die der späteren Revolutionsjahre anknüpften. In Lafayette schien die ver¬
gangene Periode noch einmal aufzuleben. Die Gefahr lag nahe, das Streben
nach verfassungsmäßiger Freiheit in die revolutionäre Propaganda umschlagen
zu sehen. So gering bei den Franzosen das Freiheitsbedürfniß war und ist,
so wenig sie geneigt und im Stande sind, sich den unabweislichen Bedingungen
des Repräsentativsystems zu fügen: so leicht sind sie doch für eine ehrgeizige
Propaganda, wie sie in der großen Revolution von Lafayette ab alle ein's
Ruder gelangten Parteien, sei es als Mittel, sei es als Zweck, ausgeübt haben,
begeistert. Auch der maaßvollste, besonnenste französische Staatsmann kann
nicht umhin, gelegentlich seiner Nation ein Compliment zu sagen über ihre
civilisatorische Mission, über ihren Beruf, sich für die Freiheit der Welt zu
opfern. Was bei dem Staatsmann eine oft nur beschwichtigende Höf¬
lichkeit für die eigene Nation, dabei aber immer eine verletzende Phrase für
das Ausland ist, drohte in den durch einen siegreichen Kampf erhitzten Gemü¬
thern einen um so ernsteren Charakter anzunehmen, als an vielen Punkten
Europa's ein Zündstoff sich angesammelt hatte, der, so schien es, nur auf den
zündenden Funken wartete, um alles Bestehende in die Luft zu sprengen.

So waren die Verhältnisse sehr herausfordernd für eine abenteuerliche,
welterschütternde Politik von freilich sehr zweifelhaftem Erfolge. Indeß in dem
Wesen der revolutionären Anschauung liegt es, die Chancen des Gelingens
und Mißlingens möglichst wenig in Anschlag zu bringen. Anders aber mußte
die neue Dynastie, anders mußten die Staatsmänner, welche durch Gründung
derselben die revolutionäre Erschütterung zu einem raschen Abschluß zu bringen
bemüht gewesen waren, die Sache ansehn, auch wenn sie unter der Herrschaft
der beseitigten Dynastie ihr Mißvergnügen über die wirklichen und vermeint¬
lichen Fehler der alten Regierung in leidenschaftlichster, ihre eigenen Grund¬
sätze überschreitender Weise kund gegeben hatten. Ihnen, welches auch ihr
Urtheil über die Gefahren eines allgemeinen Krieges sein mochte, konnte es
doch nicht entgehen, daß jede das Ausland provocirende Politik nothwendig
einen propagandistischen Charakter annehmen, daß aber jede propagandi¬
stische Politik sofort den unheilvollsten Rückschlag nach innen ausüben
mußte. Denn wie mangelhaft und einseitig das Urtheil der Franzosen über
den inneren Zusammenhang der Ereignisse ihrer ersten Revolution auch sein
mochte, --- die Thatsache konnte man sich unmöglich verbergen, daß der Krieg
vielfach nur ein Mittel in der Hand der vordringenden Parteien gewesen war,
um im Innern die Consolidirung geordneter Zustände zu hindern. Und wie


in die Routine und die Gewohnheiten einer systematischen Opposition hinein¬
gelebt, schwebten also in der augenscheinlichsten Gefahr, auch wider ihren Wil¬
len den ausschweifendsten revolutionären Tendenzen dienstbar zu werden: Ten¬
denzen, die sich vielfach nicht blos an die Traditionen von 1^89, sondern auch
an die der späteren Revolutionsjahre anknüpften. In Lafayette schien die ver¬
gangene Periode noch einmal aufzuleben. Die Gefahr lag nahe, das Streben
nach verfassungsmäßiger Freiheit in die revolutionäre Propaganda umschlagen
zu sehen. So gering bei den Franzosen das Freiheitsbedürfniß war und ist,
so wenig sie geneigt und im Stande sind, sich den unabweislichen Bedingungen
des Repräsentativsystems zu fügen: so leicht sind sie doch für eine ehrgeizige
Propaganda, wie sie in der großen Revolution von Lafayette ab alle ein's
Ruder gelangten Parteien, sei es als Mittel, sei es als Zweck, ausgeübt haben,
begeistert. Auch der maaßvollste, besonnenste französische Staatsmann kann
nicht umhin, gelegentlich seiner Nation ein Compliment zu sagen über ihre
civilisatorische Mission, über ihren Beruf, sich für die Freiheit der Welt zu
opfern. Was bei dem Staatsmann eine oft nur beschwichtigende Höf¬
lichkeit für die eigene Nation, dabei aber immer eine verletzende Phrase für
das Ausland ist, drohte in den durch einen siegreichen Kampf erhitzten Gemü¬
thern einen um so ernsteren Charakter anzunehmen, als an vielen Punkten
Europa's ein Zündstoff sich angesammelt hatte, der, so schien es, nur auf den
zündenden Funken wartete, um alles Bestehende in die Luft zu sprengen.

So waren die Verhältnisse sehr herausfordernd für eine abenteuerliche,
welterschütternde Politik von freilich sehr zweifelhaftem Erfolge. Indeß in dem
Wesen der revolutionären Anschauung liegt es, die Chancen des Gelingens
und Mißlingens möglichst wenig in Anschlag zu bringen. Anders aber mußte
die neue Dynastie, anders mußten die Staatsmänner, welche durch Gründung
derselben die revolutionäre Erschütterung zu einem raschen Abschluß zu bringen
bemüht gewesen waren, die Sache ansehn, auch wenn sie unter der Herrschaft
der beseitigten Dynastie ihr Mißvergnügen über die wirklichen und vermeint¬
lichen Fehler der alten Regierung in leidenschaftlichster, ihre eigenen Grund¬
sätze überschreitender Weise kund gegeben hatten. Ihnen, welches auch ihr
Urtheil über die Gefahren eines allgemeinen Krieges sein mochte, konnte es
doch nicht entgehen, daß jede das Ausland provocirende Politik nothwendig
einen propagandistischen Charakter annehmen, daß aber jede propagandi¬
stische Politik sofort den unheilvollsten Rückschlag nach innen ausüben
mußte. Denn wie mangelhaft und einseitig das Urtheil der Franzosen über
den inneren Zusammenhang der Ereignisse ihrer ersten Revolution auch sein
mochte, -— die Thatsache konnte man sich unmöglich verbergen, daß der Krieg
vielfach nur ein Mittel in der Hand der vordringenden Parteien gewesen war,
um im Innern die Consolidirung geordneter Zustände zu hindern. Und wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/518>, abgerufen am 23.07.2024.