Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.von Kunstgröße so widersprechend, als die geringe Beachtung der Ori¬ Rafael folgte ohne Ueberlegung dem Impuls, der ihn das Schöne überall Zwei Gesichtspunkte machen sich für uns. sobald wir an die Betrachtung Grenzboten I. 1362. 63
von Kunstgröße so widersprechend, als die geringe Beachtung der Ori¬ Rafael folgte ohne Ueberlegung dem Impuls, der ihn das Schöne überall Zwei Gesichtspunkte machen sich für uns. sobald wir an die Betrachtung Grenzboten I. 1362. 63
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113747"/> <p xml:id="ID_1615" prev="#ID_1614"> von Kunstgröße so widersprechend, als die geringe Beachtung der Ori¬<lb/> ginalität und die reiche Wandelung formeller Motive gerade in der Renais¬<lb/> sancekunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_1616"> Rafael folgte ohne Ueberlegung dem Impuls, der ihn das Schöne überall<lb/> herholen ließ, wo er es fand, und meinte nichts Unrechtes zu begehen, wenn<lb/> er für die Darstellung des Sündenfalls die Hauptgestalten Masaccio entlehnte;<lb/> in ähnlicher Weise borgt Michelangelo das Motiv für seinen Moses und Jeremias<lb/> bei Ghiberti, der es wieder Giovanni Pisano abgeschaut hatte, den ablehnenden<lb/> Christus in seinem jüngsten Gerichte holte er aus den Fresken der Capella<lb/> degli Spagnuoii heraus u. s. w. Diese naive Haltung erklärt uns auch das<lb/> Schicksal, das alle in der Renaissancepcriode aufgefundenen verstümmelten an¬<lb/> tiken Sculpturen fanden. Sie mußten ergänzt und, so gut es anging, restaurirt<lb/> werden, um den Eindruck der vollkommen schönen Erscheinung, wonach allein<lb/> der Sinn der Renaisscmceperiode strebte, wieder zu erlangen. Wir gehen von dem<lb/> entgegengesetzten Standpunkte aus. wir halten die Kunstwerke des Alterthums<lb/> als solche für heilig und unantastbar und verdammen gerade dieses willkürliche<lb/> Restauriren und Ergänzen als eine grobe Sünde und Verletzung an dem Geiste<lb/> des Alterthums. Wir werden gelehrt erweisen, daß unsere Auffassung die<lb/> richtigere und würdigere sei. Die Renaissance handelte aber ihrem Bedürfniß<lb/> entsprechend und meinte an die Antike kein geringeres Recht, wie an alles<lb/> Andere, was existirt, zusahen, und hätte wahrscheinlich unsern Vorwürfen<lb/> die Frage entgegengehalten, ob ein schöner Naturkörper dadurch verliere, daß<lb/> man ihn in vollständiger und ganzer Schönheit genieße. Das, glaube ich, haben<lb/> wir als Ueberzeugung gewonnen, daß der Einfluß der Antike auf das 15. und<lb/> 16. Jahrhundert nur ein im Grade verschiedener ist von demjenigen, den sie<lb/> schon in früheren Zeitaltern ausgeübt hat, daß die Anschauungen des Alterthums<lb/> in der Renaissanceperiode dasselbe, nur reicher ausgebildete Gepräge besitzen,<lb/> das wir schon im Mittelalter bemerkten, und endlich daß gerade dem Mangel<lb/> an zusammenhängender Erkenntniß des Alterthums, der einfachen Formsreude<lb/> an den Schöpfungen des letzteren, ihrer Betrachtung, als wären es einfache<lb/> Naturprodukte, die Renaissance die Fähigkeit verdankt, die Antike im unmittel¬<lb/> baren Interesse der Kunst zu verwerthen. Dieses Letztere scheidet eben unsere<lb/> Zeit von den früheren Jahrhunderten in einem viel höheren Maße, als die<lb/> Renaissance vom Mittelalter getrennt ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1617" next="#ID_1618"> Zwei Gesichtspunkte machen sich für uns. sobald wir an die Betrachtung<lb/> der Antike schreiten, mit aller Macht geltend. Wir sehen die Antike als ein in<lb/> sich abgeschlossenes, unerreichbares Ideal an. das den reinen Gegensatz gegen die<lb/> getrübte und in sich gebrochene wirkliche Welt bildet, und ferner: jedes Kunst¬<lb/> werk des Alterthums wird von uns nicht als eine einzelne Erscheinung betrachtet<lb/> und in dieser Weise allein ästhetisch genossen, sondern repräsentirt eine bestimmte</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1362. 63</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0505]
von Kunstgröße so widersprechend, als die geringe Beachtung der Ori¬
ginalität und die reiche Wandelung formeller Motive gerade in der Renais¬
sancekunst.
Rafael folgte ohne Ueberlegung dem Impuls, der ihn das Schöne überall
herholen ließ, wo er es fand, und meinte nichts Unrechtes zu begehen, wenn
er für die Darstellung des Sündenfalls die Hauptgestalten Masaccio entlehnte;
in ähnlicher Weise borgt Michelangelo das Motiv für seinen Moses und Jeremias
bei Ghiberti, der es wieder Giovanni Pisano abgeschaut hatte, den ablehnenden
Christus in seinem jüngsten Gerichte holte er aus den Fresken der Capella
degli Spagnuoii heraus u. s. w. Diese naive Haltung erklärt uns auch das
Schicksal, das alle in der Renaissancepcriode aufgefundenen verstümmelten an¬
tiken Sculpturen fanden. Sie mußten ergänzt und, so gut es anging, restaurirt
werden, um den Eindruck der vollkommen schönen Erscheinung, wonach allein
der Sinn der Renaisscmceperiode strebte, wieder zu erlangen. Wir gehen von dem
entgegengesetzten Standpunkte aus. wir halten die Kunstwerke des Alterthums
als solche für heilig und unantastbar und verdammen gerade dieses willkürliche
Restauriren und Ergänzen als eine grobe Sünde und Verletzung an dem Geiste
des Alterthums. Wir werden gelehrt erweisen, daß unsere Auffassung die
richtigere und würdigere sei. Die Renaissance handelte aber ihrem Bedürfniß
entsprechend und meinte an die Antike kein geringeres Recht, wie an alles
Andere, was existirt, zusahen, und hätte wahrscheinlich unsern Vorwürfen
die Frage entgegengehalten, ob ein schöner Naturkörper dadurch verliere, daß
man ihn in vollständiger und ganzer Schönheit genieße. Das, glaube ich, haben
wir als Ueberzeugung gewonnen, daß der Einfluß der Antike auf das 15. und
16. Jahrhundert nur ein im Grade verschiedener ist von demjenigen, den sie
schon in früheren Zeitaltern ausgeübt hat, daß die Anschauungen des Alterthums
in der Renaissanceperiode dasselbe, nur reicher ausgebildete Gepräge besitzen,
das wir schon im Mittelalter bemerkten, und endlich daß gerade dem Mangel
an zusammenhängender Erkenntniß des Alterthums, der einfachen Formsreude
an den Schöpfungen des letzteren, ihrer Betrachtung, als wären es einfache
Naturprodukte, die Renaissance die Fähigkeit verdankt, die Antike im unmittel¬
baren Interesse der Kunst zu verwerthen. Dieses Letztere scheidet eben unsere
Zeit von den früheren Jahrhunderten in einem viel höheren Maße, als die
Renaissance vom Mittelalter getrennt ist.
Zwei Gesichtspunkte machen sich für uns. sobald wir an die Betrachtung
der Antike schreiten, mit aller Macht geltend. Wir sehen die Antike als ein in
sich abgeschlossenes, unerreichbares Ideal an. das den reinen Gegensatz gegen die
getrübte und in sich gebrochene wirkliche Welt bildet, und ferner: jedes Kunst¬
werk des Alterthums wird von uns nicht als eine einzelne Erscheinung betrachtet
und in dieser Weise allein ästhetisch genossen, sondern repräsentirt eine bestimmte
Grenzboten I. 1362. 63
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