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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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sie keine Vollblut-Engländer und als solche zum Haß gegen den schottischen
Landsmann verpflichtet waren. Heutzutage bemühen sich die Götter und
Heroen oder die verstorbenen Menschen in Niniveh und Aegypten, in Lykien
und Halikarnaß, in Griechenland und Italien, in Kurene und Algier nicht
mehr, wenn Menschenhände ihre Tempel, Wohnungen und Grabmäler plün¬
dern oder in ferne Gegenden schleppen; auch von den Lebenden findet Nie¬
mand mehr darin einen Verstoß gegen die Pietät. Oder wer hat es zum
Verbrechen gestempelt, wenn die äginetischen Statuen nach München, die Re¬
liefs von Phigalia in das britische Museum wanderten? Wenn aber Lord El>
gilt ein Gleiches that, so muß es nun einmal ein Verbrechen sein. Und doch
hat kein Kunstlaub einen entscheidenderen Einfluß auf die Bildung des Kunst¬
geschmacks ausgeübt, keiner ist für die historische Erkenntniß von der Ent¬
wicklung der griechischen Kunst folgenreicher gewesen, als die Herüberführung
jener Werke von Athen nach London, von einem Lande, das zu sehen nur
Wenigen vergönnt ist, nach dem Mittelpunkt des Weltverkehrs, von der Höhe
eines mit dem Auge nur mangelhaft zu erreichenden Tempelgiebels oder aus
der Grabesnacht unter den Mauern einer türkischen Barracke oder dem seit
Jahrhunderten angehäuften Schutt zu der glänzenden, jedem Auge zugäng¬
lichen Aufstellung der Elginsäle des britischen Museums. Auch konnte ja
Lord Elgin nicht ahnen, daß das Land, dessen Kunstwerke durch tue bilder¬
stürmende Roheit der Türken von Jahr zu Jahr abnahmen oder auf das
schmählichste verstümmelt wurden, binnen wenigen Jahrzehnten das Joch der
Fremdherrschaft abschütteln, seine Bewohner als Erben der alten Hellenen in
die Reihe der selbständigen Völker wieder eintreten würden.

Wie aber, wenn Lord Elgin mit sicherem P>ophetenblicke seiner Zeit um
sechs Jahrzehnte hätte vorauseilen können? Natürlich waren die Griechen
nicht die Letzten dem kunstliebenden Briten zu zürnen, und man muß gerecht
sein, sie schienen auch am ersten Grund dazu zu haben. Erzähl, man sich
doch, wie sie auf die schmucklose Backsteinsäule, durch welche Elgin die ent¬
führte Karyatide hatte ersetzen lassen, die Worte gruben: "Elgin hat sie ge¬
macht." Wenn aber die heutigen Griechen noch immer in den alten Klage-
und Zorngesang mit einstimmen, so haben wir doch wohl ein Recht zu fragen,
was sie denn in den mehr als dreißig Jahren ihrer politischen Selbständig¬
keit für die Sammlung und Erhaltung der ihnen überkommenen Reste der
alten Kunst geleistet haben? Wir fürchten, wenn Lord Elgin das vorausge¬
sehen hätte, er würde nicht anders gehandelt haben als er handelte.

Das erste Museum im freien Griechenland befand sich auf der Insel
Aegina. Als aber Athen zur Residenz des neuen Reiches auserkoren war,
ward natürlich das Museum mit hinübergenommen und vermehrte sich rasch
durch die zahlreichen Kunstwerke, die der Boden Jahrhunderte, Jahrtausende


sie keine Vollblut-Engländer und als solche zum Haß gegen den schottischen
Landsmann verpflichtet waren. Heutzutage bemühen sich die Götter und
Heroen oder die verstorbenen Menschen in Niniveh und Aegypten, in Lykien
und Halikarnaß, in Griechenland und Italien, in Kurene und Algier nicht
mehr, wenn Menschenhände ihre Tempel, Wohnungen und Grabmäler plün¬
dern oder in ferne Gegenden schleppen; auch von den Lebenden findet Nie¬
mand mehr darin einen Verstoß gegen die Pietät. Oder wer hat es zum
Verbrechen gestempelt, wenn die äginetischen Statuen nach München, die Re¬
liefs von Phigalia in das britische Museum wanderten? Wenn aber Lord El>
gilt ein Gleiches that, so muß es nun einmal ein Verbrechen sein. Und doch
hat kein Kunstlaub einen entscheidenderen Einfluß auf die Bildung des Kunst¬
geschmacks ausgeübt, keiner ist für die historische Erkenntniß von der Ent¬
wicklung der griechischen Kunst folgenreicher gewesen, als die Herüberführung
jener Werke von Athen nach London, von einem Lande, das zu sehen nur
Wenigen vergönnt ist, nach dem Mittelpunkt des Weltverkehrs, von der Höhe
eines mit dem Auge nur mangelhaft zu erreichenden Tempelgiebels oder aus
der Grabesnacht unter den Mauern einer türkischen Barracke oder dem seit
Jahrhunderten angehäuften Schutt zu der glänzenden, jedem Auge zugäng¬
lichen Aufstellung der Elginsäle des britischen Museums. Auch konnte ja
Lord Elgin nicht ahnen, daß das Land, dessen Kunstwerke durch tue bilder¬
stürmende Roheit der Türken von Jahr zu Jahr abnahmen oder auf das
schmählichste verstümmelt wurden, binnen wenigen Jahrzehnten das Joch der
Fremdherrschaft abschütteln, seine Bewohner als Erben der alten Hellenen in
die Reihe der selbständigen Völker wieder eintreten würden.

Wie aber, wenn Lord Elgin mit sicherem P>ophetenblicke seiner Zeit um
sechs Jahrzehnte hätte vorauseilen können? Natürlich waren die Griechen
nicht die Letzten dem kunstliebenden Briten zu zürnen, und man muß gerecht
sein, sie schienen auch am ersten Grund dazu zu haben. Erzähl, man sich
doch, wie sie auf die schmucklose Backsteinsäule, durch welche Elgin die ent¬
führte Karyatide hatte ersetzen lassen, die Worte gruben: „Elgin hat sie ge¬
macht." Wenn aber die heutigen Griechen noch immer in den alten Klage-
und Zorngesang mit einstimmen, so haben wir doch wohl ein Recht zu fragen,
was sie denn in den mehr als dreißig Jahren ihrer politischen Selbständig¬
keit für die Sammlung und Erhaltung der ihnen überkommenen Reste der
alten Kunst geleistet haben? Wir fürchten, wenn Lord Elgin das vorausge¬
sehen hätte, er würde nicht anders gehandelt haben als er handelte.

Das erste Museum im freien Griechenland befand sich auf der Insel
Aegina. Als aber Athen zur Residenz des neuen Reiches auserkoren war,
ward natürlich das Museum mit hinübergenommen und vermehrte sich rasch
durch die zahlreichen Kunstwerke, die der Boden Jahrhunderte, Jahrtausende


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[0464] sie keine Vollblut-Engländer und als solche zum Haß gegen den schottischen Landsmann verpflichtet waren. Heutzutage bemühen sich die Götter und Heroen oder die verstorbenen Menschen in Niniveh und Aegypten, in Lykien und Halikarnaß, in Griechenland und Italien, in Kurene und Algier nicht mehr, wenn Menschenhände ihre Tempel, Wohnungen und Grabmäler plün¬ dern oder in ferne Gegenden schleppen; auch von den Lebenden findet Nie¬ mand mehr darin einen Verstoß gegen die Pietät. Oder wer hat es zum Verbrechen gestempelt, wenn die äginetischen Statuen nach München, die Re¬ liefs von Phigalia in das britische Museum wanderten? Wenn aber Lord El> gilt ein Gleiches that, so muß es nun einmal ein Verbrechen sein. Und doch hat kein Kunstlaub einen entscheidenderen Einfluß auf die Bildung des Kunst¬ geschmacks ausgeübt, keiner ist für die historische Erkenntniß von der Ent¬ wicklung der griechischen Kunst folgenreicher gewesen, als die Herüberführung jener Werke von Athen nach London, von einem Lande, das zu sehen nur Wenigen vergönnt ist, nach dem Mittelpunkt des Weltverkehrs, von der Höhe eines mit dem Auge nur mangelhaft zu erreichenden Tempelgiebels oder aus der Grabesnacht unter den Mauern einer türkischen Barracke oder dem seit Jahrhunderten angehäuften Schutt zu der glänzenden, jedem Auge zugäng¬ lichen Aufstellung der Elginsäle des britischen Museums. Auch konnte ja Lord Elgin nicht ahnen, daß das Land, dessen Kunstwerke durch tue bilder¬ stürmende Roheit der Türken von Jahr zu Jahr abnahmen oder auf das schmählichste verstümmelt wurden, binnen wenigen Jahrzehnten das Joch der Fremdherrschaft abschütteln, seine Bewohner als Erben der alten Hellenen in die Reihe der selbständigen Völker wieder eintreten würden. Wie aber, wenn Lord Elgin mit sicherem P>ophetenblicke seiner Zeit um sechs Jahrzehnte hätte vorauseilen können? Natürlich waren die Griechen nicht die Letzten dem kunstliebenden Briten zu zürnen, und man muß gerecht sein, sie schienen auch am ersten Grund dazu zu haben. Erzähl, man sich doch, wie sie auf die schmucklose Backsteinsäule, durch welche Elgin die ent¬ führte Karyatide hatte ersetzen lassen, die Worte gruben: „Elgin hat sie ge¬ macht." Wenn aber die heutigen Griechen noch immer in den alten Klage- und Zorngesang mit einstimmen, so haben wir doch wohl ein Recht zu fragen, was sie denn in den mehr als dreißig Jahren ihrer politischen Selbständig¬ keit für die Sammlung und Erhaltung der ihnen überkommenen Reste der alten Kunst geleistet haben? Wir fürchten, wenn Lord Elgin das vorausge¬ sehen hätte, er würde nicht anders gehandelt haben als er handelte. Das erste Museum im freien Griechenland befand sich auf der Insel Aegina. Als aber Athen zur Residenz des neuen Reiches auserkoren war, ward natürlich das Museum mit hinübergenommen und vermehrte sich rasch durch die zahlreichen Kunstwerke, die der Boden Jahrhunderte, Jahrtausende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/464>, abgerufen am 28.12.2024.