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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Unter diesen Umständen steht Alexander der Zweite, dem man Anfangs
als dem Vater der russischen Freiheit zugejubelt, längst gänzlich verlassen und
vereinsamt da. Da es ihm Ernst mit der freiheitlichen Entwicklung seines
Landes war, so wollte er sie auf dem Wege der Rrform; mit dem Radica-
lismus und der Revolution konnte er nicht gehn. Den Revolutionären ist
er längst ein Hinderniß für ihre Pläne: wirklich Conservative aber gibt es in
einem Lande nicht, wo von einem Bewußtsein organischer geschichtlicher Ent¬
wicklung keine Rede sein kann. Und daß er keine Freunde hat, dafür hat der
Despotismus vergangener Iahrhundene. dessen Erbe er nun einmal ist, ge¬
sorgt. Loyalität, Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus sind dem
Russen ganz fremde Empfindungen,; der Gipfel der Lächerlichkeit aber heißt
ihm die Zumuthung. für eine verlorene Sache zu kämpfen. Und so thut
Alexander Keinem genug; seine besten Absichten kehren sich als scharfe Waffen
gegen ihn selber. Die Aushebung der Leibeigenschaft, in der Idee bejubelt
und bewundert, hat in der Ausführung Niemand befriedigt, den Adel, ver
aus Interesse bis dahin auf der Seite der Regierung stand, tief erbittert, den
Bauer aber in eine Stellung gebracht, die ihn zu einem furchtbaren Werkzeug
der Revolution machen muß. Die hohe Bedeutung, welche die Aufhebung
der Leibeigenschaft vom allgemein menschlichen Standpunkt hat, kann uns nickt
einfallen ,zu bezweifeln; praktisch genommen aber zwängt sie den russischen
Bauer in weit unbequemere Bande als die bisherigen. Ans dem Sclaven
eines einzigen Herrn, der seinen Bortheil dabei fand, ihn möglichst ungehin¬
dert seinem Verdienst nachgehn zu lassen, ist er Sclave der Gemeine gewor¬
den, -die ein weit geringeres Interesse dabei hat, ihm freie Bewegung zu ge.
statten; und das mit der Aussicht, in Iahrsfrisi ein völlig besitzloser Proleta¬
rier zu fein, der zwar das Recht, sicherlich aber nicht die Mittel hat. Land¬
eigenthümer zu werden; dem es aber jedenfalls einleuchten wird, wenn ihm
etwa ein neuer Pugatschew einredet, daß er das Land unter Umständen ja
auch umsonst haben könne.

Und so wird das Czarenthum fallen, nicht durch blutige Kämpfe, sondern
durch jähen und allgemeinen Abfall. Noch freilich ist der alte Zauber des
Despotismus nicht ganz verschwunden, noch scheint bisweilen der Schatten
Nikolaus' hereinzuragen in die Gegenwart. Aber zusehends schwindet der
Zauber, schrumpft der mächtige Schatten zusammen. Noch vor einem Jahre
wären die Octobcrscenen in Petersburg und Moskau nicht möglich gewesen.
Jnstinctmäßig hat die Welt diesen Balgereien eine Bedeutung beigelegt, die
sie für sich betrachtet und zu einer andern Zeit sicherlich nicht verdient hätten.
Aber sie zeigten, wie die Furcht in den Gemüthern aufzuhören beginnt, und
worauf könnte sich eine Autorität in Rusland stützen, wenn nicht auf Furcht?
Das Czarenthum wird fallen -- und mit ihm die Revolution. Denn es wird


Unter diesen Umständen steht Alexander der Zweite, dem man Anfangs
als dem Vater der russischen Freiheit zugejubelt, längst gänzlich verlassen und
vereinsamt da. Da es ihm Ernst mit der freiheitlichen Entwicklung seines
Landes war, so wollte er sie auf dem Wege der Rrform; mit dem Radica-
lismus und der Revolution konnte er nicht gehn. Den Revolutionären ist
er längst ein Hinderniß für ihre Pläne: wirklich Conservative aber gibt es in
einem Lande nicht, wo von einem Bewußtsein organischer geschichtlicher Ent¬
wicklung keine Rede sein kann. Und daß er keine Freunde hat, dafür hat der
Despotismus vergangener Iahrhundene. dessen Erbe er nun einmal ist, ge¬
sorgt. Loyalität, Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus sind dem
Russen ganz fremde Empfindungen,; der Gipfel der Lächerlichkeit aber heißt
ihm die Zumuthung. für eine verlorene Sache zu kämpfen. Und so thut
Alexander Keinem genug; seine besten Absichten kehren sich als scharfe Waffen
gegen ihn selber. Die Aushebung der Leibeigenschaft, in der Idee bejubelt
und bewundert, hat in der Ausführung Niemand befriedigt, den Adel, ver
aus Interesse bis dahin auf der Seite der Regierung stand, tief erbittert, den
Bauer aber in eine Stellung gebracht, die ihn zu einem furchtbaren Werkzeug
der Revolution machen muß. Die hohe Bedeutung, welche die Aufhebung
der Leibeigenschaft vom allgemein menschlichen Standpunkt hat, kann uns nickt
einfallen ,zu bezweifeln; praktisch genommen aber zwängt sie den russischen
Bauer in weit unbequemere Bande als die bisherigen. Ans dem Sclaven
eines einzigen Herrn, der seinen Bortheil dabei fand, ihn möglichst ungehin¬
dert seinem Verdienst nachgehn zu lassen, ist er Sclave der Gemeine gewor¬
den, -die ein weit geringeres Interesse dabei hat, ihm freie Bewegung zu ge.
statten; und das mit der Aussicht, in Iahrsfrisi ein völlig besitzloser Proleta¬
rier zu fein, der zwar das Recht, sicherlich aber nicht die Mittel hat. Land¬
eigenthümer zu werden; dem es aber jedenfalls einleuchten wird, wenn ihm
etwa ein neuer Pugatschew einredet, daß er das Land unter Umständen ja
auch umsonst haben könne.

Und so wird das Czarenthum fallen, nicht durch blutige Kämpfe, sondern
durch jähen und allgemeinen Abfall. Noch freilich ist der alte Zauber des
Despotismus nicht ganz verschwunden, noch scheint bisweilen der Schatten
Nikolaus' hereinzuragen in die Gegenwart. Aber zusehends schwindet der
Zauber, schrumpft der mächtige Schatten zusammen. Noch vor einem Jahre
wären die Octobcrscenen in Petersburg und Moskau nicht möglich gewesen.
Jnstinctmäßig hat die Welt diesen Balgereien eine Bedeutung beigelegt, die
sie für sich betrachtet und zu einer andern Zeit sicherlich nicht verdient hätten.
Aber sie zeigten, wie die Furcht in den Gemüthern aufzuhören beginnt, und
worauf könnte sich eine Autorität in Rusland stützen, wenn nicht auf Furcht?
Das Czarenthum wird fallen — und mit ihm die Revolution. Denn es wird


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[0384] Unter diesen Umständen steht Alexander der Zweite, dem man Anfangs als dem Vater der russischen Freiheit zugejubelt, längst gänzlich verlassen und vereinsamt da. Da es ihm Ernst mit der freiheitlichen Entwicklung seines Landes war, so wollte er sie auf dem Wege der Rrform; mit dem Radica- lismus und der Revolution konnte er nicht gehn. Den Revolutionären ist er längst ein Hinderniß für ihre Pläne: wirklich Conservative aber gibt es in einem Lande nicht, wo von einem Bewußtsein organischer geschichtlicher Ent¬ wicklung keine Rede sein kann. Und daß er keine Freunde hat, dafür hat der Despotismus vergangener Iahrhundene. dessen Erbe er nun einmal ist, ge¬ sorgt. Loyalität, Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus sind dem Russen ganz fremde Empfindungen,; der Gipfel der Lächerlichkeit aber heißt ihm die Zumuthung. für eine verlorene Sache zu kämpfen. Und so thut Alexander Keinem genug; seine besten Absichten kehren sich als scharfe Waffen gegen ihn selber. Die Aushebung der Leibeigenschaft, in der Idee bejubelt und bewundert, hat in der Ausführung Niemand befriedigt, den Adel, ver aus Interesse bis dahin auf der Seite der Regierung stand, tief erbittert, den Bauer aber in eine Stellung gebracht, die ihn zu einem furchtbaren Werkzeug der Revolution machen muß. Die hohe Bedeutung, welche die Aufhebung der Leibeigenschaft vom allgemein menschlichen Standpunkt hat, kann uns nickt einfallen ,zu bezweifeln; praktisch genommen aber zwängt sie den russischen Bauer in weit unbequemere Bande als die bisherigen. Ans dem Sclaven eines einzigen Herrn, der seinen Bortheil dabei fand, ihn möglichst ungehin¬ dert seinem Verdienst nachgehn zu lassen, ist er Sclave der Gemeine gewor¬ den, -die ein weit geringeres Interesse dabei hat, ihm freie Bewegung zu ge. statten; und das mit der Aussicht, in Iahrsfrisi ein völlig besitzloser Proleta¬ rier zu fein, der zwar das Recht, sicherlich aber nicht die Mittel hat. Land¬ eigenthümer zu werden; dem es aber jedenfalls einleuchten wird, wenn ihm etwa ein neuer Pugatschew einredet, daß er das Land unter Umständen ja auch umsonst haben könne. Und so wird das Czarenthum fallen, nicht durch blutige Kämpfe, sondern durch jähen und allgemeinen Abfall. Noch freilich ist der alte Zauber des Despotismus nicht ganz verschwunden, noch scheint bisweilen der Schatten Nikolaus' hereinzuragen in die Gegenwart. Aber zusehends schwindet der Zauber, schrumpft der mächtige Schatten zusammen. Noch vor einem Jahre wären die Octobcrscenen in Petersburg und Moskau nicht möglich gewesen. Jnstinctmäßig hat die Welt diesen Balgereien eine Bedeutung beigelegt, die sie für sich betrachtet und zu einer andern Zeit sicherlich nicht verdient hätten. Aber sie zeigten, wie die Furcht in den Gemüthern aufzuhören beginnt, und worauf könnte sich eine Autorität in Rusland stützen, wenn nicht auf Furcht? Das Czarenthum wird fallen — und mit ihm die Revolution. Denn es wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/384>, abgerufen am 23.07.2024.