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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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waren. Es ist Katharina nie eingefallen, auch nur ein Titelchen ihrer
Machtvollkommenheit thatsächlich aufzugeben. Ihr ganzes Streben war auf
äußere Machtstellung Rußlands gerichtet, und sie war eine zu gute Schülerin
Peter's des Großen, als daß sie etwas von der Disciplin geopfert hätte, durch
die er jene Macht begründet hatte. Unter Paul trat dann das System, wel¬
ches Katharina kluger Weise mit humanen Formen zu verhüllen gestrebt,
wieder in seiner ganzen astatischen Brutalität hervor, um unter Alexander dem
Ersten eine neue freisinnige Tünche zu erhalten; eine Tünche, die Nikolaus bekannt¬
lich gleich wieder zu beseitigen wußte, was freilich nicht schwer war, da sie
immer nur in Worten bestanden hatte. Die Welt hat Nikolaus verdammt
und ihn einen schlimmeren Tyrannen als Nero genannt; und doch hat er
nichts gethan, was nicht das System mit sich gebracht hätte. Nur in der
Anwendung der Mittel, nicht im Princip hat sich seine Regierung von der
seines Bruders unterschieden. Unmittelbar nach Nikolaus' Thronbesteigung
brach die bekannte Verschwörung aus; der letzte und unglücklichste der unzäh¬
ligen Versuche, die der russische Adel im Laufe der Zeilen gemacht hat, um
bald unter dieser, bald unter jener Form Einfluß auf den Gang der öffent¬
lichen Dinge zu gewinnen. Und diesmal, unter der gesteigerten Einwirkung
westeuropäischer Ideen, trat derselbe in einer Gestalt auf, die, wäre die
Negierung nicht energisch eingeschritten, das herrschende System ernstlich ge¬
fährden konnte. Unter diesem Eindruck, der ihn nie mehr verließ, hat
Nikolaus dann eine 30jährige Schreckensherrschaft geführt über Nußland und
über Europa, die vielfaches Mißverständniß der russischen Dinge veranlaßt
hat. Man hat sie nämlich für eine wesentlich persönliche gehalten, während
sie doch weit mehr die äußerste Consequenz eines in tausendjähriger Entwicklung
erstarkten Princips war; eine Consequenz freilich, wie sie nur von einer unge¬
wöhnlich energischen Individualität gezogen werden konnte.

In der That, wenn Nikolaus die Anfänge russischer Herrschermacht mit
der eigenen verglich, so durfte er mit Recht sagen: die Willkür ist nichts
Willkürliches in Nußland: sie ist Bestimmung, Nothwendigkeit, Staatsprin-
cip. Denn was war aus dem bescheidenen Heerköniglhum Rurik's geworden?
Langsam aber stetig fortschreitend hatte es alle lebendigen Elemente des Volks-
organismus absorbirt, ihn zur todten Masse herabgedrückt, sich selber an die
Stelle des nationalen Bewußtseins gesetzt und war, eingeschränkt weder von
Gesetz noch von Vorurtheil, zum abstracten Verhängniß geworden, die reinste
und furchtbarste Erscheinung der Gewalt, welche die Geschichte kennt.

Man sieht: auch Rußland hat seine Entwicklung gehabt; nur steht diese
im schneidendsten Gegensatz zu dem, was wir so zu nennen gewohnt sind. Un¬
sere ganze Weltanschauung beruht auf dem Begriff der individuellen Freiheit
innerhalb der Gesammtheit und im Einklang mit derselben, und ohne sie ver-


waren. Es ist Katharina nie eingefallen, auch nur ein Titelchen ihrer
Machtvollkommenheit thatsächlich aufzugeben. Ihr ganzes Streben war auf
äußere Machtstellung Rußlands gerichtet, und sie war eine zu gute Schülerin
Peter's des Großen, als daß sie etwas von der Disciplin geopfert hätte, durch
die er jene Macht begründet hatte. Unter Paul trat dann das System, wel¬
ches Katharina kluger Weise mit humanen Formen zu verhüllen gestrebt,
wieder in seiner ganzen astatischen Brutalität hervor, um unter Alexander dem
Ersten eine neue freisinnige Tünche zu erhalten; eine Tünche, die Nikolaus bekannt¬
lich gleich wieder zu beseitigen wußte, was freilich nicht schwer war, da sie
immer nur in Worten bestanden hatte. Die Welt hat Nikolaus verdammt
und ihn einen schlimmeren Tyrannen als Nero genannt; und doch hat er
nichts gethan, was nicht das System mit sich gebracht hätte. Nur in der
Anwendung der Mittel, nicht im Princip hat sich seine Regierung von der
seines Bruders unterschieden. Unmittelbar nach Nikolaus' Thronbesteigung
brach die bekannte Verschwörung aus; der letzte und unglücklichste der unzäh¬
ligen Versuche, die der russische Adel im Laufe der Zeilen gemacht hat, um
bald unter dieser, bald unter jener Form Einfluß auf den Gang der öffent¬
lichen Dinge zu gewinnen. Und diesmal, unter der gesteigerten Einwirkung
westeuropäischer Ideen, trat derselbe in einer Gestalt auf, die, wäre die
Negierung nicht energisch eingeschritten, das herrschende System ernstlich ge¬
fährden konnte. Unter diesem Eindruck, der ihn nie mehr verließ, hat
Nikolaus dann eine 30jährige Schreckensherrschaft geführt über Nußland und
über Europa, die vielfaches Mißverständniß der russischen Dinge veranlaßt
hat. Man hat sie nämlich für eine wesentlich persönliche gehalten, während
sie doch weit mehr die äußerste Consequenz eines in tausendjähriger Entwicklung
erstarkten Princips war; eine Consequenz freilich, wie sie nur von einer unge¬
wöhnlich energischen Individualität gezogen werden konnte.

In der That, wenn Nikolaus die Anfänge russischer Herrschermacht mit
der eigenen verglich, so durfte er mit Recht sagen: die Willkür ist nichts
Willkürliches in Nußland: sie ist Bestimmung, Nothwendigkeit, Staatsprin-
cip. Denn was war aus dem bescheidenen Heerköniglhum Rurik's geworden?
Langsam aber stetig fortschreitend hatte es alle lebendigen Elemente des Volks-
organismus absorbirt, ihn zur todten Masse herabgedrückt, sich selber an die
Stelle des nationalen Bewußtseins gesetzt und war, eingeschränkt weder von
Gesetz noch von Vorurtheil, zum abstracten Verhängniß geworden, die reinste
und furchtbarste Erscheinung der Gewalt, welche die Geschichte kennt.

Man sieht: auch Rußland hat seine Entwicklung gehabt; nur steht diese
im schneidendsten Gegensatz zu dem, was wir so zu nennen gewohnt sind. Un¬
sere ganze Weltanschauung beruht auf dem Begriff der individuellen Freiheit
innerhalb der Gesammtheit und im Einklang mit derselben, und ohne sie ver-


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[0378] waren. Es ist Katharina nie eingefallen, auch nur ein Titelchen ihrer Machtvollkommenheit thatsächlich aufzugeben. Ihr ganzes Streben war auf äußere Machtstellung Rußlands gerichtet, und sie war eine zu gute Schülerin Peter's des Großen, als daß sie etwas von der Disciplin geopfert hätte, durch die er jene Macht begründet hatte. Unter Paul trat dann das System, wel¬ ches Katharina kluger Weise mit humanen Formen zu verhüllen gestrebt, wieder in seiner ganzen astatischen Brutalität hervor, um unter Alexander dem Ersten eine neue freisinnige Tünche zu erhalten; eine Tünche, die Nikolaus bekannt¬ lich gleich wieder zu beseitigen wußte, was freilich nicht schwer war, da sie immer nur in Worten bestanden hatte. Die Welt hat Nikolaus verdammt und ihn einen schlimmeren Tyrannen als Nero genannt; und doch hat er nichts gethan, was nicht das System mit sich gebracht hätte. Nur in der Anwendung der Mittel, nicht im Princip hat sich seine Regierung von der seines Bruders unterschieden. Unmittelbar nach Nikolaus' Thronbesteigung brach die bekannte Verschwörung aus; der letzte und unglücklichste der unzäh¬ ligen Versuche, die der russische Adel im Laufe der Zeilen gemacht hat, um bald unter dieser, bald unter jener Form Einfluß auf den Gang der öffent¬ lichen Dinge zu gewinnen. Und diesmal, unter der gesteigerten Einwirkung westeuropäischer Ideen, trat derselbe in einer Gestalt auf, die, wäre die Negierung nicht energisch eingeschritten, das herrschende System ernstlich ge¬ fährden konnte. Unter diesem Eindruck, der ihn nie mehr verließ, hat Nikolaus dann eine 30jährige Schreckensherrschaft geführt über Nußland und über Europa, die vielfaches Mißverständniß der russischen Dinge veranlaßt hat. Man hat sie nämlich für eine wesentlich persönliche gehalten, während sie doch weit mehr die äußerste Consequenz eines in tausendjähriger Entwicklung erstarkten Princips war; eine Consequenz freilich, wie sie nur von einer unge¬ wöhnlich energischen Individualität gezogen werden konnte. In der That, wenn Nikolaus die Anfänge russischer Herrschermacht mit der eigenen verglich, so durfte er mit Recht sagen: die Willkür ist nichts Willkürliches in Nußland: sie ist Bestimmung, Nothwendigkeit, Staatsprin- cip. Denn was war aus dem bescheidenen Heerköniglhum Rurik's geworden? Langsam aber stetig fortschreitend hatte es alle lebendigen Elemente des Volks- organismus absorbirt, ihn zur todten Masse herabgedrückt, sich selber an die Stelle des nationalen Bewußtseins gesetzt und war, eingeschränkt weder von Gesetz noch von Vorurtheil, zum abstracten Verhängniß geworden, die reinste und furchtbarste Erscheinung der Gewalt, welche die Geschichte kennt. Man sieht: auch Rußland hat seine Entwicklung gehabt; nur steht diese im schneidendsten Gegensatz zu dem, was wir so zu nennen gewohnt sind. Un¬ sere ganze Weltanschauung beruht auf dem Begriff der individuellen Freiheit innerhalb der Gesammtheit und im Einklang mit derselben, und ohne sie ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/378>, abgerufen am 23.07.2024.