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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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doch noch auf lebendige Elemente des Widerstandes, der sich nicht ganz und
auf einmal brechen ließ. Wir wissen, daß damals noch nicht fürstliche Will¬
kür an Stelle jenes alten Gewohnheitsrechts getreten war, das Wladimir
der Große sammeln ließ; wir wissen ferner von blühenden städtischen Ge¬
meinwesen, deren fast republikanische Selbständigkeit und Selbstverwaltung
die Großfürsten voll Ingrimms dulden mußten. Vor Allem ist hier Novgorod
zu nennen. Ein Gegengewicht gegen despotischen Druck lag endlich in der
großen Anzahl unabhängiger Fürstenthümer, die Wladimir der Große ge¬
schaffen hatte. Es war immer möglich, sich der Tyrannei des einen oder des
andern Theilfürsten durch Flucht ins "Ausland" zu entziehen; die Besorgniß,
seine reichsten und angesehensten Unterthanen an einen gehaßten Vetter zu
verlieren, mochte Manchen Ausbruch brutaler Herrschcrlaune verhindern.

Aber das slavische Wesen, welches seine Kraft nie in der Persönlichkeit,
sondern stets nur in der Masse zu suchen gewohnt war, konnte die Heraus¬
bildung staatlicher Sonderexistenzen auf die Dauer nicht ertragen: unverkenn¬
bar ging, in diametralem Gegensatz zu den gleichzeitigen Bestrebungen in
Westeuropa, der Zug der Geschichte auf Wiederherstellung der Staatseinheit,
wie sie bis zu Wladimir's Tod bestanden hatte.

Hierzu sollte dos 200jährige Joch der Mongolen nicht wenig mitwirken.
Die Großfürsten von Moskau nämlich, schlauer und kräftiger als ihre Vettern,
wußten den Einfluß, den sie bei! den Khanem der goldenen Horde allmälig
durch die schimpflichsten Demüthigungen gewonnen, zur Vernichtung der übri¬
gen Gewalthaber zu benutzen. Nachdem dann Johann der Dritte die Herr¬
schaft der Mongolen abgeschüttelt hatte, war die "russische Einheit" vollendet
und alle Gewalt wieder in einer Hand vereinigt. Aber diese Gewalt hatte
ihr Wesen völlig verändert: aus einer doch immer ziemlich maßvoll geHand-
habten Alleinherrschaft, die ihres germanischen Ursprungs nicht ganz vergessen
hatte, war schrankenloser asiatischer Despotismus geworden. Auch hierin war
die Mongolcnherrschaft nicht ohne Einfluß geblieben. Die furchtbare Ver¬
heerung des sittlichen Bewußtseins im Volke, welche der unerträgliche Druck
dieser Barbaren zu Wege gebracht, war von den Großfürsten sehr geschickt sür
ihre Zwecke ausgebeutet worden. Jeder Schein eines Rechts, jede Regung
von Selbständigkeit, die frühere Zeiten noch gekannt, hatten sie niedergetreten.
Als auch Novgorod gefallen war, da wußte Jedermann, daß nur Ein Wille
in Rußland galt: weder Hand noch Mund rührte sich mehr als die Barbari-
sirung der Nation durch ein unmenschliches Strafsystem vollendet und durch
Einführung der körperlichen Züchtigung für alle Klassen der Gesellschaft die
allgemeine Ehrlosigkeit von Staatswegen proclamirt wurde.

Daß selbst der hohe Adel (die "mediatisirten" Prinzen aus dem Hause
Rurik Md die Bojaren) dieser unparteiischen Maßregel unterworfen ward,


doch noch auf lebendige Elemente des Widerstandes, der sich nicht ganz und
auf einmal brechen ließ. Wir wissen, daß damals noch nicht fürstliche Will¬
kür an Stelle jenes alten Gewohnheitsrechts getreten war, das Wladimir
der Große sammeln ließ; wir wissen ferner von blühenden städtischen Ge¬
meinwesen, deren fast republikanische Selbständigkeit und Selbstverwaltung
die Großfürsten voll Ingrimms dulden mußten. Vor Allem ist hier Novgorod
zu nennen. Ein Gegengewicht gegen despotischen Druck lag endlich in der
großen Anzahl unabhängiger Fürstenthümer, die Wladimir der Große ge¬
schaffen hatte. Es war immer möglich, sich der Tyrannei des einen oder des
andern Theilfürsten durch Flucht ins „Ausland" zu entziehen; die Besorgniß,
seine reichsten und angesehensten Unterthanen an einen gehaßten Vetter zu
verlieren, mochte Manchen Ausbruch brutaler Herrschcrlaune verhindern.

Aber das slavische Wesen, welches seine Kraft nie in der Persönlichkeit,
sondern stets nur in der Masse zu suchen gewohnt war, konnte die Heraus¬
bildung staatlicher Sonderexistenzen auf die Dauer nicht ertragen: unverkenn¬
bar ging, in diametralem Gegensatz zu den gleichzeitigen Bestrebungen in
Westeuropa, der Zug der Geschichte auf Wiederherstellung der Staatseinheit,
wie sie bis zu Wladimir's Tod bestanden hatte.

Hierzu sollte dos 200jährige Joch der Mongolen nicht wenig mitwirken.
Die Großfürsten von Moskau nämlich, schlauer und kräftiger als ihre Vettern,
wußten den Einfluß, den sie bei! den Khanem der goldenen Horde allmälig
durch die schimpflichsten Demüthigungen gewonnen, zur Vernichtung der übri¬
gen Gewalthaber zu benutzen. Nachdem dann Johann der Dritte die Herr¬
schaft der Mongolen abgeschüttelt hatte, war die „russische Einheit" vollendet
und alle Gewalt wieder in einer Hand vereinigt. Aber diese Gewalt hatte
ihr Wesen völlig verändert: aus einer doch immer ziemlich maßvoll geHand-
habten Alleinherrschaft, die ihres germanischen Ursprungs nicht ganz vergessen
hatte, war schrankenloser asiatischer Despotismus geworden. Auch hierin war
die Mongolcnherrschaft nicht ohne Einfluß geblieben. Die furchtbare Ver¬
heerung des sittlichen Bewußtseins im Volke, welche der unerträgliche Druck
dieser Barbaren zu Wege gebracht, war von den Großfürsten sehr geschickt sür
ihre Zwecke ausgebeutet worden. Jeder Schein eines Rechts, jede Regung
von Selbständigkeit, die frühere Zeiten noch gekannt, hatten sie niedergetreten.
Als auch Novgorod gefallen war, da wußte Jedermann, daß nur Ein Wille
in Rußland galt: weder Hand noch Mund rührte sich mehr als die Barbari-
sirung der Nation durch ein unmenschliches Strafsystem vollendet und durch
Einführung der körperlichen Züchtigung für alle Klassen der Gesellschaft die
allgemeine Ehrlosigkeit von Staatswegen proclamirt wurde.

Daß selbst der hohe Adel (die „mediatisirten" Prinzen aus dem Hause
Rurik Md die Bojaren) dieser unparteiischen Maßregel unterworfen ward,


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[0374] doch noch auf lebendige Elemente des Widerstandes, der sich nicht ganz und auf einmal brechen ließ. Wir wissen, daß damals noch nicht fürstliche Will¬ kür an Stelle jenes alten Gewohnheitsrechts getreten war, das Wladimir der Große sammeln ließ; wir wissen ferner von blühenden städtischen Ge¬ meinwesen, deren fast republikanische Selbständigkeit und Selbstverwaltung die Großfürsten voll Ingrimms dulden mußten. Vor Allem ist hier Novgorod zu nennen. Ein Gegengewicht gegen despotischen Druck lag endlich in der großen Anzahl unabhängiger Fürstenthümer, die Wladimir der Große ge¬ schaffen hatte. Es war immer möglich, sich der Tyrannei des einen oder des andern Theilfürsten durch Flucht ins „Ausland" zu entziehen; die Besorgniß, seine reichsten und angesehensten Unterthanen an einen gehaßten Vetter zu verlieren, mochte Manchen Ausbruch brutaler Herrschcrlaune verhindern. Aber das slavische Wesen, welches seine Kraft nie in der Persönlichkeit, sondern stets nur in der Masse zu suchen gewohnt war, konnte die Heraus¬ bildung staatlicher Sonderexistenzen auf die Dauer nicht ertragen: unverkenn¬ bar ging, in diametralem Gegensatz zu den gleichzeitigen Bestrebungen in Westeuropa, der Zug der Geschichte auf Wiederherstellung der Staatseinheit, wie sie bis zu Wladimir's Tod bestanden hatte. Hierzu sollte dos 200jährige Joch der Mongolen nicht wenig mitwirken. Die Großfürsten von Moskau nämlich, schlauer und kräftiger als ihre Vettern, wußten den Einfluß, den sie bei! den Khanem der goldenen Horde allmälig durch die schimpflichsten Demüthigungen gewonnen, zur Vernichtung der übri¬ gen Gewalthaber zu benutzen. Nachdem dann Johann der Dritte die Herr¬ schaft der Mongolen abgeschüttelt hatte, war die „russische Einheit" vollendet und alle Gewalt wieder in einer Hand vereinigt. Aber diese Gewalt hatte ihr Wesen völlig verändert: aus einer doch immer ziemlich maßvoll geHand- habten Alleinherrschaft, die ihres germanischen Ursprungs nicht ganz vergessen hatte, war schrankenloser asiatischer Despotismus geworden. Auch hierin war die Mongolcnherrschaft nicht ohne Einfluß geblieben. Die furchtbare Ver¬ heerung des sittlichen Bewußtseins im Volke, welche der unerträgliche Druck dieser Barbaren zu Wege gebracht, war von den Großfürsten sehr geschickt sür ihre Zwecke ausgebeutet worden. Jeder Schein eines Rechts, jede Regung von Selbständigkeit, die frühere Zeiten noch gekannt, hatten sie niedergetreten. Als auch Novgorod gefallen war, da wußte Jedermann, daß nur Ein Wille in Rußland galt: weder Hand noch Mund rührte sich mehr als die Barbari- sirung der Nation durch ein unmenschliches Strafsystem vollendet und durch Einführung der körperlichen Züchtigung für alle Klassen der Gesellschaft die allgemeine Ehrlosigkeit von Staatswegen proclamirt wurde. Daß selbst der hohe Adel (die „mediatisirten" Prinzen aus dem Hause Rurik Md die Bojaren) dieser unparteiischen Maßregel unterworfen ward,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/374>, abgerufen am 23.07.2024.