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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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aus den Ultramontanen und den wenigen Neactionären. Selbst diese wagten
nicht als Vertheidiger des Bundestags und der Herren Rechberg und Uhden .
auszutreten, oder gar sich für Hassenpflug und die kurhessische Regierung zu
engagiren. Sie versuchten vielmehr eure vermittelnde Stellung einzunehmen,
welche aber in dieser Sache vollkommen unhaltbar ist.

Denn die Frage über Recht oder Unrecht liegt hier so einfach, daß ein
schwanke" ganz unmöglich ist. Wer sich in der Rechtsfrage auf die Seite
der kurhessischen Negierung stellt, dem fehlt es entweder an Verstand oder an
Aufrichtigkett. Der Bundestag hat durch seine Beschlüsse von 1852 und 186"
unzweifelhaft seine Competenz überschritten, und hat sein eigenes Grundgesetz,
nämlich den Art. 56 der Wiener Schlußacte, verletzt. Nach Art. 56 können
u, anerkannter Wirksamkeit bestehende landstünbifche Verfassungen nur auf
verfassungsmäßigen Wege wieder abgeändert werden. Die hessische Verfassung
von 1831 bestand seit 20 Jahren in anerkannter Wirksamkeit: Also konnte
sie nur auf verfassungsmäßigen Wege. d. h. mit Zustimmung der verfassungs-
mäßigen Vertretung des Landes abgeändert oder gar aufgehoben werden.
Wenn der Bundestag durch seinen Beschluß vom 27. März 1852 die recht¬
mäßig bestehende kurhessische Verfassung aufgehoben und durch seinen Beschluß
vom 24. März 1860 die kurfürstliche Regierung ermächtigt hat, irgend eine
neue Verfassung zu octroyiren, so war der Bund zu solchen Beschlüssen nicht
competent. Diese beiden Beschlüsse sind also null und nichtig, und die kur-
hessische Verfassung von 1831 sammt dem Wahlgesetz von 1349 besteht un¬
unterbrochen in rechtlicher Kraft, wenn auch ihre thatsächliche Wirksamkeit
augenblicklich durch die Gewalt der Umstände suspendirt ist. Wer also wünscht,
daß Recht und Ordnung erhalten und daß die Bundcsgrundgesctze beobachtet
werden, der muß dahin wirken, daß die Hindernisse, welche der Verfassung
von 1831 noch entgegenstehen, baldmöglichst aus dem Wege geräumt
werden.

Alles dies ist vollkommen einleuchtend. Aber diejenigen werden wohl
Recht haben, welche behaupten, daß die kurhessische Frage von Anfang an
nicht ausschließlich und nicht einmal vorzugsweise eine Rechtsfrage, sondern
daß sie zugleich eine Machtfrage war. Die kurhessische Verfassungsfrage ist
der Punkt, an welchem die Machtstellung Preußens in Deutschland entschieden
worden ist. und wieder entschieden werden wird. Der Streit in Kurhessen
ward muthwillig vom Zaun gebrochen, um Preußen zu demüthigen. Also
muß Preußen das Recht i" Kurhessen wieder herstellen, um seine richtige
Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen.

In der Blüthezeit der Reaction, als die Schande sich groß machte und
auch bei Tage bloß ging, hat Herr v. d. Pfordten sich öffentlich damit ge¬
rühmt, daß die kurhessische Frage angezettelt sei. um die deutsche Verfassungs-


aus den Ultramontanen und den wenigen Neactionären. Selbst diese wagten
nicht als Vertheidiger des Bundestags und der Herren Rechberg und Uhden .
auszutreten, oder gar sich für Hassenpflug und die kurhessische Regierung zu
engagiren. Sie versuchten vielmehr eure vermittelnde Stellung einzunehmen,
welche aber in dieser Sache vollkommen unhaltbar ist.

Denn die Frage über Recht oder Unrecht liegt hier so einfach, daß ein
schwanke» ganz unmöglich ist. Wer sich in der Rechtsfrage auf die Seite
der kurhessischen Negierung stellt, dem fehlt es entweder an Verstand oder an
Aufrichtigkett. Der Bundestag hat durch seine Beschlüsse von 1852 und 186»
unzweifelhaft seine Competenz überschritten, und hat sein eigenes Grundgesetz,
nämlich den Art. 56 der Wiener Schlußacte, verletzt. Nach Art. 56 können
u, anerkannter Wirksamkeit bestehende landstünbifche Verfassungen nur auf
verfassungsmäßigen Wege wieder abgeändert werden. Die hessische Verfassung
von 1831 bestand seit 20 Jahren in anerkannter Wirksamkeit: Also konnte
sie nur auf verfassungsmäßigen Wege. d. h. mit Zustimmung der verfassungs-
mäßigen Vertretung des Landes abgeändert oder gar aufgehoben werden.
Wenn der Bundestag durch seinen Beschluß vom 27. März 1852 die recht¬
mäßig bestehende kurhessische Verfassung aufgehoben und durch seinen Beschluß
vom 24. März 1860 die kurfürstliche Regierung ermächtigt hat, irgend eine
neue Verfassung zu octroyiren, so war der Bund zu solchen Beschlüssen nicht
competent. Diese beiden Beschlüsse sind also null und nichtig, und die kur-
hessische Verfassung von 1831 sammt dem Wahlgesetz von 1349 besteht un¬
unterbrochen in rechtlicher Kraft, wenn auch ihre thatsächliche Wirksamkeit
augenblicklich durch die Gewalt der Umstände suspendirt ist. Wer also wünscht,
daß Recht und Ordnung erhalten und daß die Bundcsgrundgesctze beobachtet
werden, der muß dahin wirken, daß die Hindernisse, welche der Verfassung
von 1831 noch entgegenstehen, baldmöglichst aus dem Wege geräumt
werden.

Alles dies ist vollkommen einleuchtend. Aber diejenigen werden wohl
Recht haben, welche behaupten, daß die kurhessische Frage von Anfang an
nicht ausschließlich und nicht einmal vorzugsweise eine Rechtsfrage, sondern
daß sie zugleich eine Machtfrage war. Die kurhessische Verfassungsfrage ist
der Punkt, an welchem die Machtstellung Preußens in Deutschland entschieden
worden ist. und wieder entschieden werden wird. Der Streit in Kurhessen
ward muthwillig vom Zaun gebrochen, um Preußen zu demüthigen. Also
muß Preußen das Recht i» Kurhessen wieder herstellen, um seine richtige
Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen.

In der Blüthezeit der Reaction, als die Schande sich groß machte und
auch bei Tage bloß ging, hat Herr v. d. Pfordten sich öffentlich damit ge¬
rühmt, daß die kurhessische Frage angezettelt sei. um die deutsche Verfassungs-


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[0360] aus den Ultramontanen und den wenigen Neactionären. Selbst diese wagten nicht als Vertheidiger des Bundestags und der Herren Rechberg und Uhden . auszutreten, oder gar sich für Hassenpflug und die kurhessische Regierung zu engagiren. Sie versuchten vielmehr eure vermittelnde Stellung einzunehmen, welche aber in dieser Sache vollkommen unhaltbar ist. Denn die Frage über Recht oder Unrecht liegt hier so einfach, daß ein schwanke» ganz unmöglich ist. Wer sich in der Rechtsfrage auf die Seite der kurhessischen Negierung stellt, dem fehlt es entweder an Verstand oder an Aufrichtigkett. Der Bundestag hat durch seine Beschlüsse von 1852 und 186» unzweifelhaft seine Competenz überschritten, und hat sein eigenes Grundgesetz, nämlich den Art. 56 der Wiener Schlußacte, verletzt. Nach Art. 56 können u, anerkannter Wirksamkeit bestehende landstünbifche Verfassungen nur auf verfassungsmäßigen Wege wieder abgeändert werden. Die hessische Verfassung von 1831 bestand seit 20 Jahren in anerkannter Wirksamkeit: Also konnte sie nur auf verfassungsmäßigen Wege. d. h. mit Zustimmung der verfassungs- mäßigen Vertretung des Landes abgeändert oder gar aufgehoben werden. Wenn der Bundestag durch seinen Beschluß vom 27. März 1852 die recht¬ mäßig bestehende kurhessische Verfassung aufgehoben und durch seinen Beschluß vom 24. März 1860 die kurfürstliche Regierung ermächtigt hat, irgend eine neue Verfassung zu octroyiren, so war der Bund zu solchen Beschlüssen nicht competent. Diese beiden Beschlüsse sind also null und nichtig, und die kur- hessische Verfassung von 1831 sammt dem Wahlgesetz von 1349 besteht un¬ unterbrochen in rechtlicher Kraft, wenn auch ihre thatsächliche Wirksamkeit augenblicklich durch die Gewalt der Umstände suspendirt ist. Wer also wünscht, daß Recht und Ordnung erhalten und daß die Bundcsgrundgesctze beobachtet werden, der muß dahin wirken, daß die Hindernisse, welche der Verfassung von 1831 noch entgegenstehen, baldmöglichst aus dem Wege geräumt werden. Alles dies ist vollkommen einleuchtend. Aber diejenigen werden wohl Recht haben, welche behaupten, daß die kurhessische Frage von Anfang an nicht ausschließlich und nicht einmal vorzugsweise eine Rechtsfrage, sondern daß sie zugleich eine Machtfrage war. Die kurhessische Verfassungsfrage ist der Punkt, an welchem die Machtstellung Preußens in Deutschland entschieden worden ist. und wieder entschieden werden wird. Der Streit in Kurhessen ward muthwillig vom Zaun gebrochen, um Preußen zu demüthigen. Also muß Preußen das Recht i» Kurhessen wieder herstellen, um seine richtige Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen. In der Blüthezeit der Reaction, als die Schande sich groß machte und auch bei Tage bloß ging, hat Herr v. d. Pfordten sich öffentlich damit ge¬ rühmt, daß die kurhessische Frage angezettelt sei. um die deutsche Verfassungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/360>, abgerufen am 23.07.2024.