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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Entwickelung vergleicht, der muß bei unbefangenem Urtheil sich des großen
und unwiderstehlichen Fortschrittes freuen, den sie gemacht hat. Vor 14 Jah¬
ren noch gährte ein wüstes Chaos entgegengesetzter Stimmungen, Wünsche
und Forderungen. Die Nationalversammlung zu Frankfurt schuf die erste deut-
sche Parteibildung, und mehr a!ö das. sie formulirte die erste Forderung der
Nation im Jahre 1849 mit einer Klarheit und Präcision, welche wenig zu
wünschen übrig ließ.

Aber die preußische Regierung fügte sich nur widerwillig der unabweisbaren
Logik einer neu erkannten Wahrheit. Alle Neigungen des Gemüths. tief gekränk¬
tes Selbstgefühl der Regierenden, Haß der Privilegirten. Mißstimmung des
Heeres, die alten russischen und östreichischen Traditionen zogen davon ab.
Schwache und halbe Versuche, die neue Idee doch durchzuführen, endigten
mit einer großen diplomatischen Niederlage.

Langsam und unbehilflich entwickelte sich in den nächsten Jahren das par¬
lamentarische Leben Preußens. Dort, wie in dem ganzen übrigen Deutschland
bildeten sich unterdeß, gehemmt und vielbeschräi.le. die ersten Grundlagen sür eine
praktische und systematische Agitation: die Presse und die innere Theilnahme
des einzelnen Privatmannes an dem Schicksale des Staats. Noch einmal ge¬
lang es Oestreich und den Königreichen, den alten Bundestag zu restauriren.
er versuchte vergebens der Nation einen Antheil an sich einzuflößen. Bei Mil¬
lionen war auf wilde Gemüthsbewegungen zuerst die natürliche Erschlaffung,
dann kühle Ernüchterung gefolgt; trotz aller Hindernisse that die deutsche Tages¬
presse ni ehrenwerther Weise ihr" Pflicht, zu lehren und zu bilden. Die rohe
Demokratie von 1848 verschwand, nicht nur durch die Zwangsmaßregeln der Regie¬
rungen, noch mehr durch die Erfahrungen schwerer Jahre und die vergrößerte
Einsicht. Das Veretnsleben entwickelte sich nach allen Richtungen; ein Kreis gei¬
stiger und materieller Interessen nach dem andern zog die Gleichgesinnten zusammen.

Auch in Preußen begann das Gefühl der Genesung allgemeiner zu wer¬
den. Erst zwei Jahre sind es. seit dort die Erschlaffung, welche den Tagen
von Olmütz folgte, aufgehört hat, und schon jetzt hat der preußische Minister
des Auswärtigen freiwillig, nach innerer Ueberzeugung die Aufgabe Preußens
und seine Theorie von der Zukunft Deutschlands fast genau so formulirt,
wie vor 13 Jahren die Mittelparteien im deutschen Parlament. Was damals
aus dem Volke herauswuchs als neue Erkenntniß, als ein unerhörter Fund,
als eine Forderung" welche den Negierungskrcisen in Preußen fast ebenso ver¬
haßt war. wie den Mittelstaaten, das ist jetzt nicht nur das Ziel einer tief¬
gehenden gesetzlichen Agitation im Volke, sondern eine Lebensforderung des
preußischen Staats geworden, für deren Durchführung die Regierung sich in
iincer Weise aufrichtig andr und arbeitet.

Noch höher sind die Eroberungen anzuschlagen, welche die Idee eines denk-


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Entwickelung vergleicht, der muß bei unbefangenem Urtheil sich des großen
und unwiderstehlichen Fortschrittes freuen, den sie gemacht hat. Vor 14 Jah¬
ren noch gährte ein wüstes Chaos entgegengesetzter Stimmungen, Wünsche
und Forderungen. Die Nationalversammlung zu Frankfurt schuf die erste deut-
sche Parteibildung, und mehr a!ö das. sie formulirte die erste Forderung der
Nation im Jahre 1849 mit einer Klarheit und Präcision, welche wenig zu
wünschen übrig ließ.

Aber die preußische Regierung fügte sich nur widerwillig der unabweisbaren
Logik einer neu erkannten Wahrheit. Alle Neigungen des Gemüths. tief gekränk¬
tes Selbstgefühl der Regierenden, Haß der Privilegirten. Mißstimmung des
Heeres, die alten russischen und östreichischen Traditionen zogen davon ab.
Schwache und halbe Versuche, die neue Idee doch durchzuführen, endigten
mit einer großen diplomatischen Niederlage.

Langsam und unbehilflich entwickelte sich in den nächsten Jahren das par¬
lamentarische Leben Preußens. Dort, wie in dem ganzen übrigen Deutschland
bildeten sich unterdeß, gehemmt und vielbeschräi.le. die ersten Grundlagen sür eine
praktische und systematische Agitation: die Presse und die innere Theilnahme
des einzelnen Privatmannes an dem Schicksale des Staats. Noch einmal ge¬
lang es Oestreich und den Königreichen, den alten Bundestag zu restauriren.
er versuchte vergebens der Nation einen Antheil an sich einzuflößen. Bei Mil¬
lionen war auf wilde Gemüthsbewegungen zuerst die natürliche Erschlaffung,
dann kühle Ernüchterung gefolgt; trotz aller Hindernisse that die deutsche Tages¬
presse ni ehrenwerther Weise ihr« Pflicht, zu lehren und zu bilden. Die rohe
Demokratie von 1848 verschwand, nicht nur durch die Zwangsmaßregeln der Regie¬
rungen, noch mehr durch die Erfahrungen schwerer Jahre und die vergrößerte
Einsicht. Das Veretnsleben entwickelte sich nach allen Richtungen; ein Kreis gei¬
stiger und materieller Interessen nach dem andern zog die Gleichgesinnten zusammen.

Auch in Preußen begann das Gefühl der Genesung allgemeiner zu wer¬
den. Erst zwei Jahre sind es. seit dort die Erschlaffung, welche den Tagen
von Olmütz folgte, aufgehört hat, und schon jetzt hat der preußische Minister
des Auswärtigen freiwillig, nach innerer Ueberzeugung die Aufgabe Preußens
und seine Theorie von der Zukunft Deutschlands fast genau so formulirt,
wie vor 13 Jahren die Mittelparteien im deutschen Parlament. Was damals
aus dem Volke herauswuchs als neue Erkenntniß, als ein unerhörter Fund,
als eine Forderung» welche den Negierungskrcisen in Preußen fast ebenso ver¬
haßt war. wie den Mittelstaaten, das ist jetzt nicht nur das Ziel einer tief¬
gehenden gesetzlichen Agitation im Volke, sondern eine Lebensforderung des
preußischen Staats geworden, für deren Durchführung die Regierung sich in
iincer Weise aufrichtig andr und arbeitet.

Noch höher sind die Eroberungen anzuschlagen, welche die Idee eines denk-


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[0331] Entwickelung vergleicht, der muß bei unbefangenem Urtheil sich des großen und unwiderstehlichen Fortschrittes freuen, den sie gemacht hat. Vor 14 Jah¬ ren noch gährte ein wüstes Chaos entgegengesetzter Stimmungen, Wünsche und Forderungen. Die Nationalversammlung zu Frankfurt schuf die erste deut- sche Parteibildung, und mehr a!ö das. sie formulirte die erste Forderung der Nation im Jahre 1849 mit einer Klarheit und Präcision, welche wenig zu wünschen übrig ließ. Aber die preußische Regierung fügte sich nur widerwillig der unabweisbaren Logik einer neu erkannten Wahrheit. Alle Neigungen des Gemüths. tief gekränk¬ tes Selbstgefühl der Regierenden, Haß der Privilegirten. Mißstimmung des Heeres, die alten russischen und östreichischen Traditionen zogen davon ab. Schwache und halbe Versuche, die neue Idee doch durchzuführen, endigten mit einer großen diplomatischen Niederlage. Langsam und unbehilflich entwickelte sich in den nächsten Jahren das par¬ lamentarische Leben Preußens. Dort, wie in dem ganzen übrigen Deutschland bildeten sich unterdeß, gehemmt und vielbeschräi.le. die ersten Grundlagen sür eine praktische und systematische Agitation: die Presse und die innere Theilnahme des einzelnen Privatmannes an dem Schicksale des Staats. Noch einmal ge¬ lang es Oestreich und den Königreichen, den alten Bundestag zu restauriren. er versuchte vergebens der Nation einen Antheil an sich einzuflößen. Bei Mil¬ lionen war auf wilde Gemüthsbewegungen zuerst die natürliche Erschlaffung, dann kühle Ernüchterung gefolgt; trotz aller Hindernisse that die deutsche Tages¬ presse ni ehrenwerther Weise ihr« Pflicht, zu lehren und zu bilden. Die rohe Demokratie von 1848 verschwand, nicht nur durch die Zwangsmaßregeln der Regie¬ rungen, noch mehr durch die Erfahrungen schwerer Jahre und die vergrößerte Einsicht. Das Veretnsleben entwickelte sich nach allen Richtungen; ein Kreis gei¬ stiger und materieller Interessen nach dem andern zog die Gleichgesinnten zusammen. Auch in Preußen begann das Gefühl der Genesung allgemeiner zu wer¬ den. Erst zwei Jahre sind es. seit dort die Erschlaffung, welche den Tagen von Olmütz folgte, aufgehört hat, und schon jetzt hat der preußische Minister des Auswärtigen freiwillig, nach innerer Ueberzeugung die Aufgabe Preußens und seine Theorie von der Zukunft Deutschlands fast genau so formulirt, wie vor 13 Jahren die Mittelparteien im deutschen Parlament. Was damals aus dem Volke herauswuchs als neue Erkenntniß, als ein unerhörter Fund, als eine Forderung» welche den Negierungskrcisen in Preußen fast ebenso ver¬ haßt war. wie den Mittelstaaten, das ist jetzt nicht nur das Ziel einer tief¬ gehenden gesetzlichen Agitation im Volke, sondern eine Lebensforderung des preußischen Staats geworden, für deren Durchführung die Regierung sich in iincer Weise aufrichtig andr und arbeitet. Noch höher sind die Eroberungen anzuschlagen, welche die Idee eines denk- 41*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/331>, abgerufen am 26.06.2024.