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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Europa's, in welcher sich die Slaven nach dem Abzüge der Deutschen gelagert
haben, hat wenig natürliche Begrenzungen, sie setzt Europa noch immer in
Gefahr, durch einen Völkerschwall, der aus ihren unendlichen Ebenen und
Steppen heranrauscht, beunruhigt zu werden. Wie sich dort das ungeheure
russische Reich verhältnißmäßig leicht zusammengefügt hat, so vermag auch der
eroberungslustige Wille eines Einzelnen immer noch unter günstigen Umständen
viele Hunderttausende zusammenzuballen und zu einem Angriff gegen den Westen
zu führen. Diese Lage zwingt einen angrenzenden Culturstaat, die Mittelpunkte
seiner Macht zunächst dadurch zu decken, daß er die Meilenzahl bis zu seiner
Grenze soweit hinausschiebt, daß ein plötzlicher Einbruch ihn nicht sogleich
überschwemme. Vor der Anfügung polnischer Grenzländer war Berlin nur
drei Tagcmürsche von der slavischen Grenze entfernt. Die zweite Aufgabe eines
deutschen Staates aber wird freilich immer sein, das Grenzland, das er sich ange¬
fügt, dadurch zu befestigen, daß er ihm so energisch als möglich von seiner
Kraft und Bildung mittheilt.

Bis in die neueste Zeit hat die Germanisirung des Ostens Fortschritte
gemacht. Der tausendjährige Kampf ist noch heut nicht beendigt. Bei häu¬
figem Wechsel in Gewinn und Verlust ist der Fortschritt der Deutschen doch
im Ganzen unaufhaltsam gewesen. Seit siebenhundert Jahren waren die
Deutschen Städtcgründer auch im slavischen Osten, einst war Nowgorod ein
wesentlich deutscher Markt, noch vor sechzig Jahren war in Warschau der Kern
der Bürgerschaft deutsch, er ist es noch heut in Lemberg und Krakau. Dieses
Fortschreiten der Deutschen geht mit einer inneren Nothwendigkeit vor sich,
welche man wohl einen Naturzwang nennen darf, mit und ohne Eroberung
ist es eine Dnaushvrliche Kolonisation.

Es war vielleicht Verhüngniß für die polnischen Stamme, daß ihre Race
nie im Besitz eines größeren Theils der Ostseeküsten gewesen ist. Der deutsche
Orden colonisirte Ostpreußen so gründlich, daß die Spuren der alten Urein¬
wohner -- die bekanntlich kein polnischer Stamm waren -- bis auf wenige
Erinnerungen geschwunden sind, der künstliche Bau des Ordens sank, er selbst
kam in Abhängigkeit von der polnischen Krone. Auch die deutschen Handels¬
städte, welche, sich zwischen dem alten Ordensland und dem deutschen Pommern
ausgebreitet hatten, zumal die Mündung der Weichsel stand unter polnischer
Schutzhoheit. Seit dem Ausgehen der Reformation in dem slavischen Osten
etwa hundert Jahre lang hatte es den Anschein, als ob den Polen gelingen
könnte, ein neuer Culturstaat zu werden. Das massenhafte Einwandern der
Deutschen, zumal seit dem Beginne des 30jährigen Krieges, hatte den polni¬
schen Städten eine größere Bedeutung, Industrie und einige Bürgerkraft ge¬
geben, die innern Kämpfe und die Schwäche des deutschen Reiches machten
Hoffnung auf Befestigung des Erworbenen. Es war eine kurze Blüthe. Denn


Europa's, in welcher sich die Slaven nach dem Abzüge der Deutschen gelagert
haben, hat wenig natürliche Begrenzungen, sie setzt Europa noch immer in
Gefahr, durch einen Völkerschwall, der aus ihren unendlichen Ebenen und
Steppen heranrauscht, beunruhigt zu werden. Wie sich dort das ungeheure
russische Reich verhältnißmäßig leicht zusammengefügt hat, so vermag auch der
eroberungslustige Wille eines Einzelnen immer noch unter günstigen Umständen
viele Hunderttausende zusammenzuballen und zu einem Angriff gegen den Westen
zu führen. Diese Lage zwingt einen angrenzenden Culturstaat, die Mittelpunkte
seiner Macht zunächst dadurch zu decken, daß er die Meilenzahl bis zu seiner
Grenze soweit hinausschiebt, daß ein plötzlicher Einbruch ihn nicht sogleich
überschwemme. Vor der Anfügung polnischer Grenzländer war Berlin nur
drei Tagcmürsche von der slavischen Grenze entfernt. Die zweite Aufgabe eines
deutschen Staates aber wird freilich immer sein, das Grenzland, das er sich ange¬
fügt, dadurch zu befestigen, daß er ihm so energisch als möglich von seiner
Kraft und Bildung mittheilt.

Bis in die neueste Zeit hat die Germanisirung des Ostens Fortschritte
gemacht. Der tausendjährige Kampf ist noch heut nicht beendigt. Bei häu¬
figem Wechsel in Gewinn und Verlust ist der Fortschritt der Deutschen doch
im Ganzen unaufhaltsam gewesen. Seit siebenhundert Jahren waren die
Deutschen Städtcgründer auch im slavischen Osten, einst war Nowgorod ein
wesentlich deutscher Markt, noch vor sechzig Jahren war in Warschau der Kern
der Bürgerschaft deutsch, er ist es noch heut in Lemberg und Krakau. Dieses
Fortschreiten der Deutschen geht mit einer inneren Nothwendigkeit vor sich,
welche man wohl einen Naturzwang nennen darf, mit und ohne Eroberung
ist es eine Dnaushvrliche Kolonisation.

Es war vielleicht Verhüngniß für die polnischen Stamme, daß ihre Race
nie im Besitz eines größeren Theils der Ostseeküsten gewesen ist. Der deutsche
Orden colonisirte Ostpreußen so gründlich, daß die Spuren der alten Urein¬
wohner — die bekanntlich kein polnischer Stamm waren — bis auf wenige
Erinnerungen geschwunden sind, der künstliche Bau des Ordens sank, er selbst
kam in Abhängigkeit von der polnischen Krone. Auch die deutschen Handels¬
städte, welche, sich zwischen dem alten Ordensland und dem deutschen Pommern
ausgebreitet hatten, zumal die Mündung der Weichsel stand unter polnischer
Schutzhoheit. Seit dem Ausgehen der Reformation in dem slavischen Osten
etwa hundert Jahre lang hatte es den Anschein, als ob den Polen gelingen
könnte, ein neuer Culturstaat zu werden. Das massenhafte Einwandern der
Deutschen, zumal seit dem Beginne des 30jährigen Krieges, hatte den polni¬
schen Städten eine größere Bedeutung, Industrie und einige Bürgerkraft ge¬
geben, die innern Kämpfe und die Schwäche des deutschen Reiches machten
Hoffnung auf Befestigung des Erworbenen. Es war eine kurze Blüthe. Denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/94>, abgerufen am 23.07.2024.