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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Natur, die verblichenen Hieroglyphen der Vorzeit, die Tiefen des Geisterreichs
zu ergründen strebt."
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Lobecks Briefe zeigen ihn ganz wie er war, die reinste, natürlichste Kind¬
lichkeit, aber jene Kindlichkeit, welche die eigene Größe nicht kennt. -- Noch
schärfer würdigt ihn in dieser Beziehung ein nahestehender Freund und eben¬
bürtiger Amtsgenosse. Lehrs, dessen Denkrede in den neuen preußischen Pro"
vinzialblättern 5. Nov. 1860 abgedruckt ist. Er macht auf die Naivetät
aufmerksam, mit welcher Lobeck selbst seine geistige Thätigkeit auffaßte. "In
den biologischen Nachrichten sagt er: "meine, obwol schwächliche Gesundheit
hindert mich doch nur selten lange Zeit an meinen Arbeiten, bei welchen ich
nicht nach glänzenden Resultaten, sondern allein nach einer gewissenhaften,
möglichst vollständigen Darstellung des weit zerstreuten Stoffes strebte." Wie
gesagt, wenn er selbst es so ansah, so lieben wir darin die Naivetät und
die Bewußtlosigkeit des Genies, welches sich selbst nicht kennt. Hatte er doch
mitunter einen Zug zu dem Glauben, daß eigentlich alle Menschen gleich be¬
gabt seien und nur der Fleiß den Unterschied mache. Oder hörte man ihn
doch sagen: "Hätte man nur Zeit: an Stoff fehlt es nicht; es liegt ja da,
man braucht es nur zu nehmen." Oder hatte er einmal in früheren Jahren
an Meineke die naive Frage gerichtet -- welche Philologen verstehen werden
-- ob denn nun seine Sammlungen besser wären, als die von Fischer und
Weller? Wenn wir aber eine geheime Ahnung haben müssen, daß auch
andere Leute eine solche Vorstellung von Lobeck haben, er sei ein gewissen¬
hafter, möglichst vollständiger Darsteller des weit zerstreuten Stoffes, so müssen
wir erinnern, daß, was bei ihm geniale Naivetät war, bei den andern eine
Dummheit ist. Denn fürs Erste läßt ohne den genialen Takt, welcher für
sein Thema die bedeutenden, ja die bedeutendsten Belege, da das bedeutendste
Material entdeckt, wo der gewissenhafte Sammler Noch gar keine Beziehung
ahnt, und mit sogenannten "classischen Stellen" zu Werke geht sich zu
keinen bedeutenden Resultaten gelangen; sodann aber bleibt ohne die Gabe,
welche den Menschen selten, den Gelehrten seltner vergönnt ist, die Kritik,
d. h. nämlich die Gabe des Urtheils und Kunst des Urtheilens, jene
gewissenhafte Anhäufung immer nur eine Anhäufung, der gegenüber es
nur eine Gewissenhaftigkeit gibt, sie ja nicht zu benutzen. Und nun für
Lobeck insbesondere ist jene Anschauung von seinen Arbeiten doppelt thö¬
richt, weil zu Lobeck's Charakteristik recht eigenthümlich gehört, daß ihm alles
Angehäufte, Wüste ein Gräuel war, nicht nur seinem Verstände, sondern weil
er einen ausnehmenden Sinn für Form und schöne Form und einen seltenen
Geschmack besaß.

Die beiden Gedächtnißreden ergänzen einander auf eine schöne Weise: in
der springenden, durchweg geistvollen Art, die man aus seinen sonstigen


Grenzboten IV. 1361. 54

Natur, die verblichenen Hieroglyphen der Vorzeit, die Tiefen des Geisterreichs
zu ergründen strebt."
'

Lobecks Briefe zeigen ihn ganz wie er war, die reinste, natürlichste Kind¬
lichkeit, aber jene Kindlichkeit, welche die eigene Größe nicht kennt. — Noch
schärfer würdigt ihn in dieser Beziehung ein nahestehender Freund und eben¬
bürtiger Amtsgenosse. Lehrs, dessen Denkrede in den neuen preußischen Pro«
vinzialblättern 5. Nov. 1860 abgedruckt ist. Er macht auf die Naivetät
aufmerksam, mit welcher Lobeck selbst seine geistige Thätigkeit auffaßte. „In
den biologischen Nachrichten sagt er: „meine, obwol schwächliche Gesundheit
hindert mich doch nur selten lange Zeit an meinen Arbeiten, bei welchen ich
nicht nach glänzenden Resultaten, sondern allein nach einer gewissenhaften,
möglichst vollständigen Darstellung des weit zerstreuten Stoffes strebte." Wie
gesagt, wenn er selbst es so ansah, so lieben wir darin die Naivetät und
die Bewußtlosigkeit des Genies, welches sich selbst nicht kennt. Hatte er doch
mitunter einen Zug zu dem Glauben, daß eigentlich alle Menschen gleich be¬
gabt seien und nur der Fleiß den Unterschied mache. Oder hörte man ihn
doch sagen: „Hätte man nur Zeit: an Stoff fehlt es nicht; es liegt ja da,
man braucht es nur zu nehmen." Oder hatte er einmal in früheren Jahren
an Meineke die naive Frage gerichtet — welche Philologen verstehen werden
— ob denn nun seine Sammlungen besser wären, als die von Fischer und
Weller? Wenn wir aber eine geheime Ahnung haben müssen, daß auch
andere Leute eine solche Vorstellung von Lobeck haben, er sei ein gewissen¬
hafter, möglichst vollständiger Darsteller des weit zerstreuten Stoffes, so müssen
wir erinnern, daß, was bei ihm geniale Naivetät war, bei den andern eine
Dummheit ist. Denn fürs Erste läßt ohne den genialen Takt, welcher für
sein Thema die bedeutenden, ja die bedeutendsten Belege, da das bedeutendste
Material entdeckt, wo der gewissenhafte Sammler Noch gar keine Beziehung
ahnt, und mit sogenannten „classischen Stellen" zu Werke geht sich zu
keinen bedeutenden Resultaten gelangen; sodann aber bleibt ohne die Gabe,
welche den Menschen selten, den Gelehrten seltner vergönnt ist, die Kritik,
d. h. nämlich die Gabe des Urtheils und Kunst des Urtheilens, jene
gewissenhafte Anhäufung immer nur eine Anhäufung, der gegenüber es
nur eine Gewissenhaftigkeit gibt, sie ja nicht zu benutzen. Und nun für
Lobeck insbesondere ist jene Anschauung von seinen Arbeiten doppelt thö¬
richt, weil zu Lobeck's Charakteristik recht eigenthümlich gehört, daß ihm alles
Angehäufte, Wüste ein Gräuel war, nicht nur seinem Verstände, sondern weil
er einen ausnehmenden Sinn für Form und schöne Form und einen seltenen
Geschmack besaß.

Die beiden Gedächtnißreden ergänzen einander auf eine schöne Weise: in
der springenden, durchweg geistvollen Art, die man aus seinen sonstigen


Grenzboten IV. 1361. 54
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[0435] Natur, die verblichenen Hieroglyphen der Vorzeit, die Tiefen des Geisterreichs zu ergründen strebt." ' Lobecks Briefe zeigen ihn ganz wie er war, die reinste, natürlichste Kind¬ lichkeit, aber jene Kindlichkeit, welche die eigene Größe nicht kennt. — Noch schärfer würdigt ihn in dieser Beziehung ein nahestehender Freund und eben¬ bürtiger Amtsgenosse. Lehrs, dessen Denkrede in den neuen preußischen Pro« vinzialblättern 5. Nov. 1860 abgedruckt ist. Er macht auf die Naivetät aufmerksam, mit welcher Lobeck selbst seine geistige Thätigkeit auffaßte. „In den biologischen Nachrichten sagt er: „meine, obwol schwächliche Gesundheit hindert mich doch nur selten lange Zeit an meinen Arbeiten, bei welchen ich nicht nach glänzenden Resultaten, sondern allein nach einer gewissenhaften, möglichst vollständigen Darstellung des weit zerstreuten Stoffes strebte." Wie gesagt, wenn er selbst es so ansah, so lieben wir darin die Naivetät und die Bewußtlosigkeit des Genies, welches sich selbst nicht kennt. Hatte er doch mitunter einen Zug zu dem Glauben, daß eigentlich alle Menschen gleich be¬ gabt seien und nur der Fleiß den Unterschied mache. Oder hörte man ihn doch sagen: „Hätte man nur Zeit: an Stoff fehlt es nicht; es liegt ja da, man braucht es nur zu nehmen." Oder hatte er einmal in früheren Jahren an Meineke die naive Frage gerichtet — welche Philologen verstehen werden — ob denn nun seine Sammlungen besser wären, als die von Fischer und Weller? Wenn wir aber eine geheime Ahnung haben müssen, daß auch andere Leute eine solche Vorstellung von Lobeck haben, er sei ein gewissen¬ hafter, möglichst vollständiger Darsteller des weit zerstreuten Stoffes, so müssen wir erinnern, daß, was bei ihm geniale Naivetät war, bei den andern eine Dummheit ist. Denn fürs Erste läßt ohne den genialen Takt, welcher für sein Thema die bedeutenden, ja die bedeutendsten Belege, da das bedeutendste Material entdeckt, wo der gewissenhafte Sammler Noch gar keine Beziehung ahnt, und mit sogenannten „classischen Stellen" zu Werke geht sich zu keinen bedeutenden Resultaten gelangen; sodann aber bleibt ohne die Gabe, welche den Menschen selten, den Gelehrten seltner vergönnt ist, die Kritik, d. h. nämlich die Gabe des Urtheils und Kunst des Urtheilens, jene gewissenhafte Anhäufung immer nur eine Anhäufung, der gegenüber es nur eine Gewissenhaftigkeit gibt, sie ja nicht zu benutzen. Und nun für Lobeck insbesondere ist jene Anschauung von seinen Arbeiten doppelt thö¬ richt, weil zu Lobeck's Charakteristik recht eigenthümlich gehört, daß ihm alles Angehäufte, Wüste ein Gräuel war, nicht nur seinem Verstände, sondern weil er einen ausnehmenden Sinn für Form und schöne Form und einen seltenen Geschmack besaß. Die beiden Gedächtnißreden ergänzen einander auf eine schöne Weise: in der springenden, durchweg geistvollen Art, die man aus seinen sonstigen Grenzboten IV. 1361. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/435>, abgerufen am 29.12.2024.