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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Bezeichnende aber nicht achtet, das Bild der Lebensfülle und Thätigkeit nicht
erkennt. Die einzelnen Aeußerungen Goethes reißt rr aus allem Zusammen¬
hang, den ganzen Goethe aber drückt er gewaltsam in einen Zusammen¬
hang hinab, aus dem sich befreit und erhoben zu haben ohne ihn abzureißen
sein größtes Verdienst ist. Es ist überhaupt der Fehler des Luchs, alles nur
in Verhältnissen und Gegensätzen zu sehen und den äußerlichen, künstlichen,
oft rein willkürlichen Zusammenhang festzuhalten, den wahren, inneren aber
nicht zu sehen. Daher verlieren hier alle Gestalten, das Individuelle wird
gedrückt, das Talent mißkannt, die Literatur, die Poesie, sind ein Gemisch
von Irrthümern. Versuchen, Fehlgriffen, Unzulänglichkeiten. Die eingestreuten
Bewunderungen und.Anerkennungen, die oft beinahe begeisterten Lobsprüche,
welche reichlich eingestreut sind, helfen nichts, sie bleiben doch nur verloren in
dem Verneinenden, Absprechenden. Das Hauptergebniß des Autors bleibt:
Mit der Literatur ist es aus und es war nie viel damit. Daher auch der
niederziehende Hang, der öde, trostlose Eindruck, den das Lesen dieses Buchs
gibt, die Mißstimmung, die es zurückläßt. Auch spielt die Gereiztheit der
politischen Stimmung des Verfassers überall ein. die Göttinger Sache; w>r
sollen die Poesie aufgeben, unsere Thätigkeit auf Volk und Staat richten.
Ferner sehe ich den Heidelberger Schlosser oft durchblicken, den mit den Er¬
eignissen stets zankenden Historiker. Gervinus weiß sehr viel, versteht aber
wenig, hat Goethen ganz und gar nicht verstanden, kann ihn nicht verstehen,
trotz allen Aufwands von Werkzeugen und Mühen, mit denen er an ihn
herantritt. Auch Schillern wird er nicht gerecht, so gewaltig er ihn preist
und hebt. Seit Niebuhrs drei Bänden Briefe hat kein Buch mich beim Lesen
so ermüdet, verdüstert. Ein trauriges Lesen, wiewol spannend und auf¬
reizend!" --

Und so quält er sich noch eine Zeit lang mit Betrachtungen über einen
Schriftsteller herum, dessen Gelehrsamkeit und Scharfsinn ihm Achtung abzwingt,
gegen dessen ganze Lebensauffassung er aber einen entschiedenen Abscheu em¬
pfindet. Es ist die alte Zeit, die sich gegen die neue sträubt und doch dunkel
fühlt, daß sie ihr nicht gewachsen ist. In einzelnen Punkten ist freilich Varn-
hagens Kritik vollkommen treffend; nur der eine Vorwurf ist mehr äußerlich
begründet: Hätte Gervinus nicht eine Geschichte der Poesie, sondern eine Ge¬
schichte der Literatur geschrieben, so würde sein Endresultat ganz correct er¬
schienen sein.

Einige gute Bemerkungen finden sich auch über Schleiermacher. Varn-
hagen macht darauf aufmerksam, daß man über seine Thätigkeit in der Litera¬
tur gewöhnlich seine menschlichen Schicksale übersieht: die Mißgestalt seines
Körpers, seine Leidenschaft zu Eleonore. "Tragischer noch waren die Vorgänge
in seiner nachherigen Ehe, die Geschichten mit Marwitz, mit der "Fischer."


Bezeichnende aber nicht achtet, das Bild der Lebensfülle und Thätigkeit nicht
erkennt. Die einzelnen Aeußerungen Goethes reißt rr aus allem Zusammen¬
hang, den ganzen Goethe aber drückt er gewaltsam in einen Zusammen¬
hang hinab, aus dem sich befreit und erhoben zu haben ohne ihn abzureißen
sein größtes Verdienst ist. Es ist überhaupt der Fehler des Luchs, alles nur
in Verhältnissen und Gegensätzen zu sehen und den äußerlichen, künstlichen,
oft rein willkürlichen Zusammenhang festzuhalten, den wahren, inneren aber
nicht zu sehen. Daher verlieren hier alle Gestalten, das Individuelle wird
gedrückt, das Talent mißkannt, die Literatur, die Poesie, sind ein Gemisch
von Irrthümern. Versuchen, Fehlgriffen, Unzulänglichkeiten. Die eingestreuten
Bewunderungen und.Anerkennungen, die oft beinahe begeisterten Lobsprüche,
welche reichlich eingestreut sind, helfen nichts, sie bleiben doch nur verloren in
dem Verneinenden, Absprechenden. Das Hauptergebniß des Autors bleibt:
Mit der Literatur ist es aus und es war nie viel damit. Daher auch der
niederziehende Hang, der öde, trostlose Eindruck, den das Lesen dieses Buchs
gibt, die Mißstimmung, die es zurückläßt. Auch spielt die Gereiztheit der
politischen Stimmung des Verfassers überall ein. die Göttinger Sache; w>r
sollen die Poesie aufgeben, unsere Thätigkeit auf Volk und Staat richten.
Ferner sehe ich den Heidelberger Schlosser oft durchblicken, den mit den Er¬
eignissen stets zankenden Historiker. Gervinus weiß sehr viel, versteht aber
wenig, hat Goethen ganz und gar nicht verstanden, kann ihn nicht verstehen,
trotz allen Aufwands von Werkzeugen und Mühen, mit denen er an ihn
herantritt. Auch Schillern wird er nicht gerecht, so gewaltig er ihn preist
und hebt. Seit Niebuhrs drei Bänden Briefe hat kein Buch mich beim Lesen
so ermüdet, verdüstert. Ein trauriges Lesen, wiewol spannend und auf¬
reizend!" —

Und so quält er sich noch eine Zeit lang mit Betrachtungen über einen
Schriftsteller herum, dessen Gelehrsamkeit und Scharfsinn ihm Achtung abzwingt,
gegen dessen ganze Lebensauffassung er aber einen entschiedenen Abscheu em¬
pfindet. Es ist die alte Zeit, die sich gegen die neue sträubt und doch dunkel
fühlt, daß sie ihr nicht gewachsen ist. In einzelnen Punkten ist freilich Varn-
hagens Kritik vollkommen treffend; nur der eine Vorwurf ist mehr äußerlich
begründet: Hätte Gervinus nicht eine Geschichte der Poesie, sondern eine Ge¬
schichte der Literatur geschrieben, so würde sein Endresultat ganz correct er¬
schienen sein.

Einige gute Bemerkungen finden sich auch über Schleiermacher. Varn-
hagen macht darauf aufmerksam, daß man über seine Thätigkeit in der Litera¬
tur gewöhnlich seine menschlichen Schicksale übersieht: die Mißgestalt seines
Körpers, seine Leidenschaft zu Eleonore. „Tragischer noch waren die Vorgänge
in seiner nachherigen Ehe, die Geschichten mit Marwitz, mit der „Fischer."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/337>, abgerufen am 27.12.2024.