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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Unmöglich aber konnte eine Körperschaft, die nicht ganz ohne Grund im Lande
wenig beliebt war, der die Julirevolution eines der wichtigsten ihrer Attribute,
die Erblichkeit, ent-ogen hatte/ dadurch in politischer Bedeutung (und grade
die Steigerung ihrer politischen Bedeutung lag im Interesse der Regierung)
gewinnen, das; sie sich wochenlang den leidenschaftlichen Insulten, der gröbsten
Mißachtung, ja der Verwerfung ihrer Kompetenz von Seiten derjenigen aus¬
gesetzt sah, über die sie richten sollte. Wir können nicht umhin, in der Ver¬
weisung des Processes an die Pairskammer einen beklagenswerthen. wenn
auch schwer vermutlichen politischen Fehler zu sehen.

Die Septembergesetze, die durch das Attentat Fieschi's hervorgerufen waren^
waren der letzte bedeutendere Act. der aus der Einigkeit zwischen dem Ministerium
und der alten Majorität hervorging. Das wiedergewonnene Gefühl der Sicher¬
heit zerriß rasch d,c alten Bande. Der Finanzminister Humcmn erklärt bei
Gelegenheit der Budget-Debatte eine baldige Reduction der Zinsen der
Staatsschuld für nothwendig, zum großen Erstaunen seiner College", ohne
deren Borwisscu er diesen wichtigen Punkt berührt hatte. Sein Rücktritt war
unvermeidlich; d'Argout ward sein Nachfolger. DieFrage der Reduction war
aber einmal in die Versammlung geworfen und ließ sich durch den Rücktritt
Humanus nicht kurzweg beseitigen. Die Minister waren nicht grade princi¬
pielle Gegner der Mcrßregel, glaubten aber über den Zeitpunkt, wann sie
zu derselben die Hand bieten könnten, keine bindende Erklärung abgeben zu
dürfen. Die Schroffheit, mit der Broglie bei dieser Gelegenheit sich aussprach,
erbitterte und reizte; auch die Eisersucht gegen die großen Pariser Kapitalisten,
die von der Reduction nichts wissen wollten, machte sich geltend; kurz es wird
ein förmlicher Antrag auf die Reduction gestellt, und gegen den Widerspruch
der Minister, die Aufschub verlangen, mit einer Majorität von zwei Stimmen
angenommen. Das Ministerium gibt seine Entlassung ein. Ob Humcmn.
dessen Verfahre,, allerdings höchst auffallend war, als Werkzeug einer Intrigue,
um das Ministerium zu sprengen, oder, wie Guizot behauptet, aus Unbe¬
sonnenheit und Eitelkeit gehandelt hat, um sein Ministerium durch eine große
Maßregel berühmt zu machen, müssen wir unentschieden lassen.

Wären die Mitglieder des durch eine absurde Abstimmung gestürzten Cabi-
nets einmüthig in dem Entschlüsse gewesen, zusammen zu stehen, oder zu fallen,
so war kein Zweifel, daß das Ministerium aus den alten Grundlagen re-
eonstruirt worden wäre. Diesmal aber konnte Thiers den Lockungen des Ehr¬
geizes nicht widerstehn. Er ließ sich die Schmeicheleien der Politiker bei Hofe
und in den diplomatischen Salons gefallen. Die Aussicht auf das auswärtige
Ministerium verband sich mit seiner Abneigung gegen Broglie und dem
drückenden Gefühl seiner Abhängigkeit von den Doctrinärs; von allen Gegnern
Guizots bestürmt, entschloß er' sich, ein neues Ministerium zu bilden.


Grenzboten IV. 1861, 40

Unmöglich aber konnte eine Körperschaft, die nicht ganz ohne Grund im Lande
wenig beliebt war, der die Julirevolution eines der wichtigsten ihrer Attribute,
die Erblichkeit, ent-ogen hatte/ dadurch in politischer Bedeutung (und grade
die Steigerung ihrer politischen Bedeutung lag im Interesse der Regierung)
gewinnen, das; sie sich wochenlang den leidenschaftlichen Insulten, der gröbsten
Mißachtung, ja der Verwerfung ihrer Kompetenz von Seiten derjenigen aus¬
gesetzt sah, über die sie richten sollte. Wir können nicht umhin, in der Ver¬
weisung des Processes an die Pairskammer einen beklagenswerthen. wenn
auch schwer vermutlichen politischen Fehler zu sehen.

Die Septembergesetze, die durch das Attentat Fieschi's hervorgerufen waren^
waren der letzte bedeutendere Act. der aus der Einigkeit zwischen dem Ministerium
und der alten Majorität hervorging. Das wiedergewonnene Gefühl der Sicher¬
heit zerriß rasch d,c alten Bande. Der Finanzminister Humcmn erklärt bei
Gelegenheit der Budget-Debatte eine baldige Reduction der Zinsen der
Staatsschuld für nothwendig, zum großen Erstaunen seiner College», ohne
deren Borwisscu er diesen wichtigen Punkt berührt hatte. Sein Rücktritt war
unvermeidlich; d'Argout ward sein Nachfolger. DieFrage der Reduction war
aber einmal in die Versammlung geworfen und ließ sich durch den Rücktritt
Humanus nicht kurzweg beseitigen. Die Minister waren nicht grade princi¬
pielle Gegner der Mcrßregel, glaubten aber über den Zeitpunkt, wann sie
zu derselben die Hand bieten könnten, keine bindende Erklärung abgeben zu
dürfen. Die Schroffheit, mit der Broglie bei dieser Gelegenheit sich aussprach,
erbitterte und reizte; auch die Eisersucht gegen die großen Pariser Kapitalisten,
die von der Reduction nichts wissen wollten, machte sich geltend; kurz es wird
ein förmlicher Antrag auf die Reduction gestellt, und gegen den Widerspruch
der Minister, die Aufschub verlangen, mit einer Majorität von zwei Stimmen
angenommen. Das Ministerium gibt seine Entlassung ein. Ob Humcmn.
dessen Verfahre,, allerdings höchst auffallend war, als Werkzeug einer Intrigue,
um das Ministerium zu sprengen, oder, wie Guizot behauptet, aus Unbe¬
sonnenheit und Eitelkeit gehandelt hat, um sein Ministerium durch eine große
Maßregel berühmt zu machen, müssen wir unentschieden lassen.

Wären die Mitglieder des durch eine absurde Abstimmung gestürzten Cabi-
nets einmüthig in dem Entschlüsse gewesen, zusammen zu stehen, oder zu fallen,
so war kein Zweifel, daß das Ministerium aus den alten Grundlagen re-
eonstruirt worden wäre. Diesmal aber konnte Thiers den Lockungen des Ehr¬
geizes nicht widerstehn. Er ließ sich die Schmeicheleien der Politiker bei Hofe
und in den diplomatischen Salons gefallen. Die Aussicht auf das auswärtige
Ministerium verband sich mit seiner Abneigung gegen Broglie und dem
drückenden Gefühl seiner Abhängigkeit von den Doctrinärs; von allen Gegnern
Guizots bestürmt, entschloß er' sich, ein neues Ministerium zu bilden.


Grenzboten IV. 1861, 40
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/323>, abgerufen am 23.07.2024.