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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Jude", die "Memoiren eines Kammerdieners." Wie der französische Dichter,
hat auch Gutzkow eine breite Masse von einzelnen Erfindungen zusammen¬
gestellt, die nicht durch ihre innere Beziehung aus einander, sondern durch einen
ideellen Rahmen sowie durch eine durchgehende lyrische Grundstimmung zu¬
sammengehalten werden,

Dieser Nahmen war bei den "Rittern vom Geist", die deutsche Reaction
des Jahres 1850, die lyrische Grundstimmung das dieser Reaction gcgcn-
übertretende Gefühl, daß in irgend einer unbestimmten Zukunft Alles anders
und besser werden müsse. Wenn man den Roman heute noch läse,'so würde
man wol allgemein ein Satire gegen die Demokratie darin finden; denn die¬
jenigen politischen Zustände, welche der Verfasser selbst als schlecht und un¬
haltbar empfindet, werden nur obenhin skizzirr, und die Figuren, welche ihnen
als Träger dienen, wie der Justizrath Schlurk u. s. w., gehören keiner be¬
stimmten Zeit an; man findet sie in den Komödien und Romanen des vorigen
Jahrhunderts wie Heute. ' Dagegen sind die Ritter vom Geist, die Männer
der Zukunft, aus deren geheimem Zusammenwirken ein besserer Zustand für
Deutschland hervorgehen soll, mit allen ihren Gedanken und Empfindungen
sehr ausführlich dargestellt, und der unbefangene Leser empfängt den Ein¬
druck, daß nicht in ihren Gegnern, sondern in ihnen die Krankheit der Zeit
sich offenbart. Denn sie gehn nicht etwa von einem bestimmten, sachgemäßen
Willen, von einer politischen Ueberzeugung aus; sie suchen nur ihre eigenen
subjectiven Stimmungen gegenseitig zu steigern und sich dadurch über die
Menge zu erheben. Der Bund, den sie schließen, ist nicht eine Parteibildung
zur Anbahnung und Durchführung politischer Reformen, sondern eine Coterie
schöner Geister, sich gegenseitig zu hegen und zu fördern. Dieser Referenda-
rius, der an der Sylbe steht, diese Maler, Belletristen. Berliner Proletarier
u. s. w., die unter sich durch Nichts zusammenhängen, als durch das Be¬
wußtsein großer Velleitäten, sind den bestehenden Zuständen gegenüber, so
schlecht sie auch sein mögen, entschieden im Unrecht, denn es sind durchweg
Weichlinge, deren Kopf und Herz mit jeder volltönenden Phrase durchgeht, und
die weder eines starken Willens noch eines bestimmten Urtheils fähig sind,
weil sie in ihrer Zerstreutheit keinen Gedanken rein ausdenken, in ihrer
Empfindsamkeit kein Gefühl voll ausströmen, in der ausschließlichen Beschäf¬
tigung mit der eigenen Seelenstimmung keiner Sache eine eingehende Aufmerk¬
samkeit und eine concentrirte Willensthätigkeit widmen können. .

Betrachtet man die Darstellung blos als Conterfey der Zeit, so liegt eine
gewisse Wahrheit darin. Solche Individuen gab es damals in hinreichender
Anzahl, und da die Zeit mehr für Phrasen und für Rhetorik gemacht war
als für eine kräftige That, so spielten sie eine nicht unerhebliche Rolle. Be¬
rauscht Von ihrer eigenen Stimmung und von der Stimmung der sie nage^


Jude", die „Memoiren eines Kammerdieners." Wie der französische Dichter,
hat auch Gutzkow eine breite Masse von einzelnen Erfindungen zusammen¬
gestellt, die nicht durch ihre innere Beziehung aus einander, sondern durch einen
ideellen Rahmen sowie durch eine durchgehende lyrische Grundstimmung zu¬
sammengehalten werden,

Dieser Nahmen war bei den „Rittern vom Geist", die deutsche Reaction
des Jahres 1850, die lyrische Grundstimmung das dieser Reaction gcgcn-
übertretende Gefühl, daß in irgend einer unbestimmten Zukunft Alles anders
und besser werden müsse. Wenn man den Roman heute noch läse,'so würde
man wol allgemein ein Satire gegen die Demokratie darin finden; denn die¬
jenigen politischen Zustände, welche der Verfasser selbst als schlecht und un¬
haltbar empfindet, werden nur obenhin skizzirr, und die Figuren, welche ihnen
als Träger dienen, wie der Justizrath Schlurk u. s. w., gehören keiner be¬
stimmten Zeit an; man findet sie in den Komödien und Romanen des vorigen
Jahrhunderts wie Heute. ' Dagegen sind die Ritter vom Geist, die Männer
der Zukunft, aus deren geheimem Zusammenwirken ein besserer Zustand für
Deutschland hervorgehen soll, mit allen ihren Gedanken und Empfindungen
sehr ausführlich dargestellt, und der unbefangene Leser empfängt den Ein¬
druck, daß nicht in ihren Gegnern, sondern in ihnen die Krankheit der Zeit
sich offenbart. Denn sie gehn nicht etwa von einem bestimmten, sachgemäßen
Willen, von einer politischen Ueberzeugung aus; sie suchen nur ihre eigenen
subjectiven Stimmungen gegenseitig zu steigern und sich dadurch über die
Menge zu erheben. Der Bund, den sie schließen, ist nicht eine Parteibildung
zur Anbahnung und Durchführung politischer Reformen, sondern eine Coterie
schöner Geister, sich gegenseitig zu hegen und zu fördern. Dieser Referenda-
rius, der an der Sylbe steht, diese Maler, Belletristen. Berliner Proletarier
u. s. w., die unter sich durch Nichts zusammenhängen, als durch das Be¬
wußtsein großer Velleitäten, sind den bestehenden Zuständen gegenüber, so
schlecht sie auch sein mögen, entschieden im Unrecht, denn es sind durchweg
Weichlinge, deren Kopf und Herz mit jeder volltönenden Phrase durchgeht, und
die weder eines starken Willens noch eines bestimmten Urtheils fähig sind,
weil sie in ihrer Zerstreutheit keinen Gedanken rein ausdenken, in ihrer
Empfindsamkeit kein Gefühl voll ausströmen, in der ausschließlichen Beschäf¬
tigung mit der eigenen Seelenstimmung keiner Sache eine eingehende Aufmerk¬
samkeit und eine concentrirte Willensthätigkeit widmen können. .

Betrachtet man die Darstellung blos als Conterfey der Zeit, so liegt eine
gewisse Wahrheit darin. Solche Individuen gab es damals in hinreichender
Anzahl, und da die Zeit mehr für Phrasen und für Rhetorik gemacht war
als für eine kräftige That, so spielten sie eine nicht unerhebliche Rolle. Be¬
rauscht Von ihrer eigenen Stimmung und von der Stimmung der sie nage^


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[0252] Jude", die „Memoiren eines Kammerdieners." Wie der französische Dichter, hat auch Gutzkow eine breite Masse von einzelnen Erfindungen zusammen¬ gestellt, die nicht durch ihre innere Beziehung aus einander, sondern durch einen ideellen Rahmen sowie durch eine durchgehende lyrische Grundstimmung zu¬ sammengehalten werden, Dieser Nahmen war bei den „Rittern vom Geist", die deutsche Reaction des Jahres 1850, die lyrische Grundstimmung das dieser Reaction gcgcn- übertretende Gefühl, daß in irgend einer unbestimmten Zukunft Alles anders und besser werden müsse. Wenn man den Roman heute noch läse,'so würde man wol allgemein ein Satire gegen die Demokratie darin finden; denn die¬ jenigen politischen Zustände, welche der Verfasser selbst als schlecht und un¬ haltbar empfindet, werden nur obenhin skizzirr, und die Figuren, welche ihnen als Träger dienen, wie der Justizrath Schlurk u. s. w., gehören keiner be¬ stimmten Zeit an; man findet sie in den Komödien und Romanen des vorigen Jahrhunderts wie Heute. ' Dagegen sind die Ritter vom Geist, die Männer der Zukunft, aus deren geheimem Zusammenwirken ein besserer Zustand für Deutschland hervorgehen soll, mit allen ihren Gedanken und Empfindungen sehr ausführlich dargestellt, und der unbefangene Leser empfängt den Ein¬ druck, daß nicht in ihren Gegnern, sondern in ihnen die Krankheit der Zeit sich offenbart. Denn sie gehn nicht etwa von einem bestimmten, sachgemäßen Willen, von einer politischen Ueberzeugung aus; sie suchen nur ihre eigenen subjectiven Stimmungen gegenseitig zu steigern und sich dadurch über die Menge zu erheben. Der Bund, den sie schließen, ist nicht eine Parteibildung zur Anbahnung und Durchführung politischer Reformen, sondern eine Coterie schöner Geister, sich gegenseitig zu hegen und zu fördern. Dieser Referenda- rius, der an der Sylbe steht, diese Maler, Belletristen. Berliner Proletarier u. s. w., die unter sich durch Nichts zusammenhängen, als durch das Be¬ wußtsein großer Velleitäten, sind den bestehenden Zuständen gegenüber, so schlecht sie auch sein mögen, entschieden im Unrecht, denn es sind durchweg Weichlinge, deren Kopf und Herz mit jeder volltönenden Phrase durchgeht, und die weder eines starken Willens noch eines bestimmten Urtheils fähig sind, weil sie in ihrer Zerstreutheit keinen Gedanken rein ausdenken, in ihrer Empfindsamkeit kein Gefühl voll ausströmen, in der ausschließlichen Beschäf¬ tigung mit der eigenen Seelenstimmung keiner Sache eine eingehende Aufmerk¬ samkeit und eine concentrirte Willensthätigkeit widmen können. . Betrachtet man die Darstellung blos als Conterfey der Zeit, so liegt eine gewisse Wahrheit darin. Solche Individuen gab es damals in hinreichender Anzahl, und da die Zeit mehr für Phrasen und für Rhetorik gemacht war als für eine kräftige That, so spielten sie eine nicht unerhebliche Rolle. Be¬ rauscht Von ihrer eigenen Stimmung und von der Stimmung der sie nage^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/252>, abgerufen am 29.12.2024.