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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Athalia läßt die Kinder aus dem Geschlechte Jesu ermorden, von 1827, beide
Bilder nach Racine; ein Christus am Kreuz mit den Frauen ist in ähnlich
leidenschaftlicher Weise gehalten). Ligalon, dem die Natur eine eigenthümliche
und fruchtbare Phantasie versagt hatte, suchte diesen Mangel durch ein tieferes
Eindringen in die Weise älterer Meister, denen er sich verwandt fühlte, zu
ersetzen. Bald war Paul Veronese. bald Rubens, bald Michelangelo sein
Borbild. Wie aber der neuen Schule durchaus der Sinn sür die zauberische
Anmuth fehlte, mit welcher die Bcneticmer das Leben von seiner frohen fest¬
lichen Seite auffaßten, das zeigt des Künstlers erstes Bild (aus den, Jahre
1821), die Courtisane, bei dem ihm Giorgione und Tizian vorgeschwebt hatten.
Die Courtisane (in der Kleidung des 16. Jahrhunderts) empfangt von einem
vor ihr stehenden Manne ein Schmuckkästchen, während sie heimlich mit der
andern Hand von einem zweiten einen Brief annimmt. Wie ist >n diesem
Motiv die von tiefer geheimnißvoller Leidenschaft erfüllte Beziehung, welche
ein Giorgione mit wunderbarem Reize in seinen einfach zusammenstehenden
Figuren auszudrücken wußte, zur flachen und ins Gemeine gezogenen Empfin¬
dung modernen Lebens verzerrt! Eher noch wußte der Maler die gewaltsame
Erscheinung michel-cmgelesker Bewegungen nachzubilden, und die Regierung
traf das Nichtige, als sie ihn nach Rom schickte, das jüngste Gericht zu cvpiren.
Es war sein letztes Werk, --

Als ein entschiedener Anhänger der romantischen Kunst und bald als ein,
Hauptvertreter derselben angesehen thut sich Louis Boulanger hervor.
Er entnimmt seine Motive gern den Dichtungen von Chateaubriand und Vic¬
tor Hugo und sucht meistens die düstere Stimmung dieser romantischen Poesie
in wild bewegten und eigemhümiich beleuchteten Gestalten wiederzugeben.
So ist im Salon von 1861 seine "rornle an Lg,ti)g,t/° (nach Victor Hugo)
ein tolles Gewirre von in leidenschaftlichem Tanz durcheinandergewühlten Figuren,
seine "revzriv cle VelMa" el" in phantastischem, grellem Mondlichte hinge¬
strecktes Weib. Diese Kunst vergißt, daß. um auf die Phantasie zu wirken,
der Maler den Weg durch die Anschauung zu nehmen hat und daß es wohl
dem Dichter bisweilen gelingen mag. den Leser mit unheimlichen, nebelhaften
und grauenvollen Bildern zu beschäftigen, daß sich aber das Auge auf derlei
ebenso bedeutungs- als gestaltlose Wunderlichkeiten nicht einläßt.

Man sieht: die Zahl der Maler, die als entschiedene .Parteigänger der
romantischen Schule angehörten, war nicht groß; dagegen gab es, wie be¬
merkt, unter den jüngeren Künstlern kaum Einen, der nicht irgendwie unter
den Einflüssen der romantischen Anschauungsweise stand. Und dies Verhält¬
niß hat sich selbst dann erhalten, als die moderne Kunst, indem sie sich vor¬
nehmlich der Geschichte zuwandte, in eine neue Periode trat. Nicht bloß,
daß sie sich mit Borliebe das Grauenvolle und die äußerste Spitze des dra-


Athalia läßt die Kinder aus dem Geschlechte Jesu ermorden, von 1827, beide
Bilder nach Racine; ein Christus am Kreuz mit den Frauen ist in ähnlich
leidenschaftlicher Weise gehalten). Ligalon, dem die Natur eine eigenthümliche
und fruchtbare Phantasie versagt hatte, suchte diesen Mangel durch ein tieferes
Eindringen in die Weise älterer Meister, denen er sich verwandt fühlte, zu
ersetzen. Bald war Paul Veronese. bald Rubens, bald Michelangelo sein
Borbild. Wie aber der neuen Schule durchaus der Sinn sür die zauberische
Anmuth fehlte, mit welcher die Bcneticmer das Leben von seiner frohen fest¬
lichen Seite auffaßten, das zeigt des Künstlers erstes Bild (aus den, Jahre
1821), die Courtisane, bei dem ihm Giorgione und Tizian vorgeschwebt hatten.
Die Courtisane (in der Kleidung des 16. Jahrhunderts) empfangt von einem
vor ihr stehenden Manne ein Schmuckkästchen, während sie heimlich mit der
andern Hand von einem zweiten einen Brief annimmt. Wie ist >n diesem
Motiv die von tiefer geheimnißvoller Leidenschaft erfüllte Beziehung, welche
ein Giorgione mit wunderbarem Reize in seinen einfach zusammenstehenden
Figuren auszudrücken wußte, zur flachen und ins Gemeine gezogenen Empfin¬
dung modernen Lebens verzerrt! Eher noch wußte der Maler die gewaltsame
Erscheinung michel-cmgelesker Bewegungen nachzubilden, und die Regierung
traf das Nichtige, als sie ihn nach Rom schickte, das jüngste Gericht zu cvpiren.
Es war sein letztes Werk, —

Als ein entschiedener Anhänger der romantischen Kunst und bald als ein,
Hauptvertreter derselben angesehen thut sich Louis Boulanger hervor.
Er entnimmt seine Motive gern den Dichtungen von Chateaubriand und Vic¬
tor Hugo und sucht meistens die düstere Stimmung dieser romantischen Poesie
in wild bewegten und eigemhümiich beleuchteten Gestalten wiederzugeben.
So ist im Salon von 1861 seine „rornle an Lg,ti)g,t/° (nach Victor Hugo)
ein tolles Gewirre von in leidenschaftlichem Tanz durcheinandergewühlten Figuren,
seine „revzriv cle VelMa" el» in phantastischem, grellem Mondlichte hinge¬
strecktes Weib. Diese Kunst vergißt, daß. um auf die Phantasie zu wirken,
der Maler den Weg durch die Anschauung zu nehmen hat und daß es wohl
dem Dichter bisweilen gelingen mag. den Leser mit unheimlichen, nebelhaften
und grauenvollen Bildern zu beschäftigen, daß sich aber das Auge auf derlei
ebenso bedeutungs- als gestaltlose Wunderlichkeiten nicht einläßt.

Man sieht: die Zahl der Maler, die als entschiedene .Parteigänger der
romantischen Schule angehörten, war nicht groß; dagegen gab es, wie be¬
merkt, unter den jüngeren Künstlern kaum Einen, der nicht irgendwie unter
den Einflüssen der romantischen Anschauungsweise stand. Und dies Verhält¬
niß hat sich selbst dann erhalten, als die moderne Kunst, indem sie sich vor¬
nehmlich der Geschichte zuwandte, in eine neue Periode trat. Nicht bloß,
daß sie sich mit Borliebe das Grauenvolle und die äußerste Spitze des dra-


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[0232] Athalia läßt die Kinder aus dem Geschlechte Jesu ermorden, von 1827, beide Bilder nach Racine; ein Christus am Kreuz mit den Frauen ist in ähnlich leidenschaftlicher Weise gehalten). Ligalon, dem die Natur eine eigenthümliche und fruchtbare Phantasie versagt hatte, suchte diesen Mangel durch ein tieferes Eindringen in die Weise älterer Meister, denen er sich verwandt fühlte, zu ersetzen. Bald war Paul Veronese. bald Rubens, bald Michelangelo sein Borbild. Wie aber der neuen Schule durchaus der Sinn sür die zauberische Anmuth fehlte, mit welcher die Bcneticmer das Leben von seiner frohen fest¬ lichen Seite auffaßten, das zeigt des Künstlers erstes Bild (aus den, Jahre 1821), die Courtisane, bei dem ihm Giorgione und Tizian vorgeschwebt hatten. Die Courtisane (in der Kleidung des 16. Jahrhunderts) empfangt von einem vor ihr stehenden Manne ein Schmuckkästchen, während sie heimlich mit der andern Hand von einem zweiten einen Brief annimmt. Wie ist >n diesem Motiv die von tiefer geheimnißvoller Leidenschaft erfüllte Beziehung, welche ein Giorgione mit wunderbarem Reize in seinen einfach zusammenstehenden Figuren auszudrücken wußte, zur flachen und ins Gemeine gezogenen Empfin¬ dung modernen Lebens verzerrt! Eher noch wußte der Maler die gewaltsame Erscheinung michel-cmgelesker Bewegungen nachzubilden, und die Regierung traf das Nichtige, als sie ihn nach Rom schickte, das jüngste Gericht zu cvpiren. Es war sein letztes Werk, — Als ein entschiedener Anhänger der romantischen Kunst und bald als ein, Hauptvertreter derselben angesehen thut sich Louis Boulanger hervor. Er entnimmt seine Motive gern den Dichtungen von Chateaubriand und Vic¬ tor Hugo und sucht meistens die düstere Stimmung dieser romantischen Poesie in wild bewegten und eigemhümiich beleuchteten Gestalten wiederzugeben. So ist im Salon von 1861 seine „rornle an Lg,ti)g,t/° (nach Victor Hugo) ein tolles Gewirre von in leidenschaftlichem Tanz durcheinandergewühlten Figuren, seine „revzriv cle VelMa" el» in phantastischem, grellem Mondlichte hinge¬ strecktes Weib. Diese Kunst vergißt, daß. um auf die Phantasie zu wirken, der Maler den Weg durch die Anschauung zu nehmen hat und daß es wohl dem Dichter bisweilen gelingen mag. den Leser mit unheimlichen, nebelhaften und grauenvollen Bildern zu beschäftigen, daß sich aber das Auge auf derlei ebenso bedeutungs- als gestaltlose Wunderlichkeiten nicht einläßt. Man sieht: die Zahl der Maler, die als entschiedene .Parteigänger der romantischen Schule angehörten, war nicht groß; dagegen gab es, wie be¬ merkt, unter den jüngeren Künstlern kaum Einen, der nicht irgendwie unter den Einflüssen der romantischen Anschauungsweise stand. Und dies Verhält¬ niß hat sich selbst dann erhalten, als die moderne Kunst, indem sie sich vor¬ nehmlich der Geschichte zuwandte, in eine neue Periode trat. Nicht bloß, daß sie sich mit Borliebe das Grauenvolle und die äußerste Spitze des dra-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/232>, abgerufen am 28.12.2024.