Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Das industrielle Deutschland als Uebergang aus dem huma¬
nistischen zum frei bürgerlichen und nationalen.

Nirgends macht sich wol der gewaltige Umschwung, welchen die Ver¬
hältnisse des Verkehrs und der Industrie und damit die ganze Denk¬
weise und Richtung der Zeit im Verlauf des letzten Jahrzehnts erlitten haben,
lebhafter fühlbar, als in unseren kleineren binnenländischen Staaten, die seit
dieser Zeit erst in die Bewegung der übrigen Welt recht hincingcrückt sind.
Welch' eine Kluft trennt z. B. jetzt schon das Schwaben von heute von dem¬
jenigen, das noch vor ein paar Jahrzehnten war. das noch vorwiegend durch
theologische und philosophische Kämpfe, durch die unruhigen Geister, die aus
dem Tübinger Stifte hervorgingen, seinen Antheil an deutscher Geistesentwick¬
lung bethätigte und draußen in der Welt von sich sprechen machte. Jetzt ist
das Alles verstummt, auch das Haupt der "Tübinger Schule" ist dahin, und
eine verhältnißmäßig noch ferne Zeit erst wird die bleibenden Nachwirkungen
jener Kämpfe und Untersuchungen herausstellen und zur Reise bringen.
Schwaben aber geht mehr und mehr über in die industrielle Bahn. Technische
Ausbildung, durch Mittel jeder Art, durch Schulen, Fortbildungsanstalten,
Musterlagcr, Ausstellungen u. tgi. gefördert, Gewerbsfreiheit und schwung¬
vollerer rationeller Betrieb des Hauptnahrungszweiges, der Landwirthschaft,
das ist derzeit zum Hauptagens des schwäbischen Lebens geworden; und so
strebt auch der Hauptpunkt des Landes, vor ein paar Jahrzehnten noch vor¬
wiegend eine bloße Residenzstadt, immer mehr zu einem Sitze industrieller
Thätigkeit aus. Es scheint, als ob der schwäbische Geist mit derselben Gründ¬
lichkeit, mit welcher er an den Tiefen der philosophischen und theologischen
Geistesarbeit Theil genommen hat, auch auf jenem praktischen Gebiete das
Versäumte nachholen und gegenüber der idealen Macht Schiller'scher Dich¬
tung, in welcher er seine ganze Innerlichkeit geoffenbart, nun auch die Befähi¬
gung zu prosaisch reeller Arbeit bethätigen wolle. Und allerdings hat wol
kein Theil unserer Nation es nöthiger gehabt, aus brütendem, einseitig inner¬
lichem Geistesleben und kleinlich binnenländischer Beschränktheit heraus zum
regen Bewußtsein seiner Stellung und seines Berufes in der Außenwelt auf¬
gerufen zu werden. Denn nirgends war, vor verhältnißmäßig noch kurzer


Grenzboten IV. 1861, Itz
Das industrielle Deutschland als Uebergang aus dem huma¬
nistischen zum frei bürgerlichen und nationalen.

Nirgends macht sich wol der gewaltige Umschwung, welchen die Ver¬
hältnisse des Verkehrs und der Industrie und damit die ganze Denk¬
weise und Richtung der Zeit im Verlauf des letzten Jahrzehnts erlitten haben,
lebhafter fühlbar, als in unseren kleineren binnenländischen Staaten, die seit
dieser Zeit erst in die Bewegung der übrigen Welt recht hincingcrückt sind.
Welch' eine Kluft trennt z. B. jetzt schon das Schwaben von heute von dem¬
jenigen, das noch vor ein paar Jahrzehnten war. das noch vorwiegend durch
theologische und philosophische Kämpfe, durch die unruhigen Geister, die aus
dem Tübinger Stifte hervorgingen, seinen Antheil an deutscher Geistesentwick¬
lung bethätigte und draußen in der Welt von sich sprechen machte. Jetzt ist
das Alles verstummt, auch das Haupt der „Tübinger Schule" ist dahin, und
eine verhältnißmäßig noch ferne Zeit erst wird die bleibenden Nachwirkungen
jener Kämpfe und Untersuchungen herausstellen und zur Reise bringen.
Schwaben aber geht mehr und mehr über in die industrielle Bahn. Technische
Ausbildung, durch Mittel jeder Art, durch Schulen, Fortbildungsanstalten,
Musterlagcr, Ausstellungen u. tgi. gefördert, Gewerbsfreiheit und schwung¬
vollerer rationeller Betrieb des Hauptnahrungszweiges, der Landwirthschaft,
das ist derzeit zum Hauptagens des schwäbischen Lebens geworden; und so
strebt auch der Hauptpunkt des Landes, vor ein paar Jahrzehnten noch vor¬
wiegend eine bloße Residenzstadt, immer mehr zu einem Sitze industrieller
Thätigkeit aus. Es scheint, als ob der schwäbische Geist mit derselben Gründ¬
lichkeit, mit welcher er an den Tiefen der philosophischen und theologischen
Geistesarbeit Theil genommen hat, auch auf jenem praktischen Gebiete das
Versäumte nachholen und gegenüber der idealen Macht Schiller'scher Dich¬
tung, in welcher er seine ganze Innerlichkeit geoffenbart, nun auch die Befähi¬
gung zu prosaisch reeller Arbeit bethätigen wolle. Und allerdings hat wol
kein Theil unserer Nation es nöthiger gehabt, aus brütendem, einseitig inner¬
lichem Geistesleben und kleinlich binnenländischer Beschränktheit heraus zum
regen Bewußtsein seiner Stellung und seines Berufes in der Außenwelt auf¬
gerufen zu werden. Denn nirgends war, vor verhältnißmäßig noch kurzer


Grenzboten IV. 1861, Itz
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0131" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112639"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das industrielle Deutschland als Uebergang aus dem huma¬<lb/>
nistischen zum frei bürgerlichen und nationalen.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_360" next="#ID_361"> Nirgends macht sich wol der gewaltige Umschwung, welchen die Ver¬<lb/>
hältnisse des Verkehrs und der Industrie und damit die ganze Denk¬<lb/>
weise und Richtung der Zeit im Verlauf des letzten Jahrzehnts erlitten haben,<lb/>
lebhafter fühlbar, als in unseren kleineren binnenländischen Staaten, die seit<lb/>
dieser Zeit erst in die Bewegung der übrigen Welt recht hincingcrückt sind.<lb/>
Welch' eine Kluft trennt z. B. jetzt schon das Schwaben von heute von dem¬<lb/>
jenigen, das noch vor ein paar Jahrzehnten war. das noch vorwiegend durch<lb/>
theologische und philosophische Kämpfe, durch die unruhigen Geister, die aus<lb/>
dem Tübinger Stifte hervorgingen, seinen Antheil an deutscher Geistesentwick¬<lb/>
lung bethätigte und draußen in der Welt von sich sprechen machte. Jetzt ist<lb/>
das Alles verstummt, auch das Haupt der &#x201E;Tübinger Schule" ist dahin, und<lb/>
eine verhältnißmäßig noch ferne Zeit erst wird die bleibenden Nachwirkungen<lb/>
jener Kämpfe und Untersuchungen herausstellen und zur Reise bringen.<lb/>
Schwaben aber geht mehr und mehr über in die industrielle Bahn. Technische<lb/>
Ausbildung, durch Mittel jeder Art, durch Schulen, Fortbildungsanstalten,<lb/>
Musterlagcr, Ausstellungen u. tgi. gefördert, Gewerbsfreiheit und schwung¬<lb/>
vollerer rationeller Betrieb des Hauptnahrungszweiges, der Landwirthschaft,<lb/>
das ist derzeit zum Hauptagens des schwäbischen Lebens geworden; und so<lb/>
strebt auch der Hauptpunkt des Landes, vor ein paar Jahrzehnten noch vor¬<lb/>
wiegend eine bloße Residenzstadt, immer mehr zu einem Sitze industrieller<lb/>
Thätigkeit aus. Es scheint, als ob der schwäbische Geist mit derselben Gründ¬<lb/>
lichkeit, mit welcher er an den Tiefen der philosophischen und theologischen<lb/>
Geistesarbeit Theil genommen hat, auch auf jenem praktischen Gebiete das<lb/>
Versäumte nachholen und gegenüber der idealen Macht Schiller'scher Dich¬<lb/>
tung, in welcher er seine ganze Innerlichkeit geoffenbart, nun auch die Befähi¬<lb/>
gung zu prosaisch reeller Arbeit bethätigen wolle. Und allerdings hat wol<lb/>
kein Theil unserer Nation es nöthiger gehabt, aus brütendem, einseitig inner¬<lb/>
lichem Geistesleben und kleinlich binnenländischer Beschränktheit heraus zum<lb/>
regen Bewußtsein seiner Stellung und seines Berufes in der Außenwelt auf¬<lb/>
gerufen zu werden.  Denn nirgends war, vor verhältnißmäßig noch kurzer</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1861, Itz</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0131] Das industrielle Deutschland als Uebergang aus dem huma¬ nistischen zum frei bürgerlichen und nationalen. Nirgends macht sich wol der gewaltige Umschwung, welchen die Ver¬ hältnisse des Verkehrs und der Industrie und damit die ganze Denk¬ weise und Richtung der Zeit im Verlauf des letzten Jahrzehnts erlitten haben, lebhafter fühlbar, als in unseren kleineren binnenländischen Staaten, die seit dieser Zeit erst in die Bewegung der übrigen Welt recht hincingcrückt sind. Welch' eine Kluft trennt z. B. jetzt schon das Schwaben von heute von dem¬ jenigen, das noch vor ein paar Jahrzehnten war. das noch vorwiegend durch theologische und philosophische Kämpfe, durch die unruhigen Geister, die aus dem Tübinger Stifte hervorgingen, seinen Antheil an deutscher Geistesentwick¬ lung bethätigte und draußen in der Welt von sich sprechen machte. Jetzt ist das Alles verstummt, auch das Haupt der „Tübinger Schule" ist dahin, und eine verhältnißmäßig noch ferne Zeit erst wird die bleibenden Nachwirkungen jener Kämpfe und Untersuchungen herausstellen und zur Reise bringen. Schwaben aber geht mehr und mehr über in die industrielle Bahn. Technische Ausbildung, durch Mittel jeder Art, durch Schulen, Fortbildungsanstalten, Musterlagcr, Ausstellungen u. tgi. gefördert, Gewerbsfreiheit und schwung¬ vollerer rationeller Betrieb des Hauptnahrungszweiges, der Landwirthschaft, das ist derzeit zum Hauptagens des schwäbischen Lebens geworden; und so strebt auch der Hauptpunkt des Landes, vor ein paar Jahrzehnten noch vor¬ wiegend eine bloße Residenzstadt, immer mehr zu einem Sitze industrieller Thätigkeit aus. Es scheint, als ob der schwäbische Geist mit derselben Gründ¬ lichkeit, mit welcher er an den Tiefen der philosophischen und theologischen Geistesarbeit Theil genommen hat, auch auf jenem praktischen Gebiete das Versäumte nachholen und gegenüber der idealen Macht Schiller'scher Dich¬ tung, in welcher er seine ganze Innerlichkeit geoffenbart, nun auch die Befähi¬ gung zu prosaisch reeller Arbeit bethätigen wolle. Und allerdings hat wol kein Theil unserer Nation es nöthiger gehabt, aus brütendem, einseitig inner¬ lichem Geistesleben und kleinlich binnenländischer Beschränktheit heraus zum regen Bewußtsein seiner Stellung und seines Berufes in der Außenwelt auf¬ gerufen zu werden. Denn nirgends war, vor verhältnißmäßig noch kurzer Grenzboten IV. 1861, Itz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/131
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/131>, abgerufen am 27.12.2024.