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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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von gewöhnlicher Eigenliebe nur durch die weiter hinausgeschobenen Schran¬
ken unterscheidet" (S. 175).

Nach den Worten seines neuesten Biographen war Lessing seiner Zeit
auch politisch um ein Jahrhundert voraus. "Also", commentirt Hehler, "da
die 100 Jahre jetzt um sind, ein Politiker der Gegenwart. Ob dies nicht
ein bloßer Schein ist, davon herrührend, daß ein Politiker' der Gegenwart
seinen eigenen Standpunkt um so viel zurückdatirt?" (S. 178). Nach dem¬
selben Biographen war Lessing ein Republicaner, ein theoretischer natürlich,
da er keine republicmnschcn Umwälzungen erstrebte -- "und," setzt Hehler hin¬
zu, (nach früher von.ihm angeführten Stellen) "nicht einmal die allervmsichtigste
Gewalt, auch nicht die allergelindesten Mittel, ja nicht ein Sterbenswörtchen
für die Republik aufwandte!" (Ebendaselbst.) Eine der stärksten republicnnischen
Stellen, scherzt Hehler, sei dem Biographen überdies entgangen. Ueber die
Frage, ob die Poesie gereimt sein solle oder nicht, bemerke Lessing, er dringe
auch hier auf eine "republikanische Freiheit", die er überall einführen würde,
wenn er könnte. "Der Tausend!" parodirt der Verfasser solche tendenziöse
Gesinnungsschmeckerei, "daß er auf dieses Geständnis; nicht nach Spandnu trans-
portirt wurde, und der fahrlässige Censor mit ihm! Nein, gewiß Hot derjenige,
welcher in einer absoluten Monarchie sich so naiv zum Republicanismus be¬
kennt und dahin die Freiheit zu reimen oder nicht zu reimen zählt, etwas
Andres im Kopf als Politik" (S. 185).

Wenn Stahr bedauert, daß uns Lessing nicht auch einen politischen Na-
than hinterlassen habe, so hat Hehler dagegen nichts, nur bemerkt er, "eine
bestimmte Staatsform wäre darin von Lessing so wenig verherrlicht worden, als
dies in dem wirklichen Nathan einer positiven Religion widerfahren ist. Ihm
galt keine Staatsform für die absolut beste; aber dieser relative Jndifferentis-
mus war nur die Kehrseite der Ueberzeugung, daß jedes Volk, so gewiß es
ein eigenes Volk ist. auch seine eigene Verfassung haben solle und habe. Sich
für einen Monarchisten zu erklären, wäre Lessing nicht eingefallen, ohne zu
sagen, für welches bestimme Land; ebensowenig aber für einen Republicaner
ohne dieselbe nähere Bestimmung." Will man indeß unter Republicaner im
weitern Sinn "Jemand verstehen, der von einer guten Verfassung fordert, daß
sie dem vernünftigen Willen des betreffenden Volks angemessen sei, so war
Lessing unstreitig ein Republicaner." Doch auch das immer nur so, daß ihm
die Staatsverfassung als bloßes Mittel galt, während der Zweck des Staats
über diesen hinauslag, da er den Menschen nicht um des Staates, sondern
den Staat um des Menschen willen geschaffen glaubte (S. 187 f.).

Wir trennen uns von dem Buche des Herrn H. mit dem Wunsche, daß
er sich bald wieder über Lessing vernehmen lasse, und daß seine läutere Art
sich mit Lessing zu beschäftigen Andern zum Muster dienen möge. '




--d.

von gewöhnlicher Eigenliebe nur durch die weiter hinausgeschobenen Schran¬
ken unterscheidet" (S. 175).

Nach den Worten seines neuesten Biographen war Lessing seiner Zeit
auch politisch um ein Jahrhundert voraus. „Also", commentirt Hehler, „da
die 100 Jahre jetzt um sind, ein Politiker der Gegenwart. Ob dies nicht
ein bloßer Schein ist, davon herrührend, daß ein Politiker' der Gegenwart
seinen eigenen Standpunkt um so viel zurückdatirt?" (S. 178). Nach dem¬
selben Biographen war Lessing ein Republicaner, ein theoretischer natürlich,
da er keine republicmnschcn Umwälzungen erstrebte — „und," setzt Hehler hin¬
zu, (nach früher von.ihm angeführten Stellen) „nicht einmal die allervmsichtigste
Gewalt, auch nicht die allergelindesten Mittel, ja nicht ein Sterbenswörtchen
für die Republik aufwandte!" (Ebendaselbst.) Eine der stärksten republicnnischen
Stellen, scherzt Hehler, sei dem Biographen überdies entgangen. Ueber die
Frage, ob die Poesie gereimt sein solle oder nicht, bemerke Lessing, er dringe
auch hier auf eine „republikanische Freiheit", die er überall einführen würde,
wenn er könnte. „Der Tausend!" parodirt der Verfasser solche tendenziöse
Gesinnungsschmeckerei, „daß er auf dieses Geständnis; nicht nach Spandnu trans-
portirt wurde, und der fahrlässige Censor mit ihm! Nein, gewiß Hot derjenige,
welcher in einer absoluten Monarchie sich so naiv zum Republicanismus be¬
kennt und dahin die Freiheit zu reimen oder nicht zu reimen zählt, etwas
Andres im Kopf als Politik" (S. 185).

Wenn Stahr bedauert, daß uns Lessing nicht auch einen politischen Na-
than hinterlassen habe, so hat Hehler dagegen nichts, nur bemerkt er, „eine
bestimmte Staatsform wäre darin von Lessing so wenig verherrlicht worden, als
dies in dem wirklichen Nathan einer positiven Religion widerfahren ist. Ihm
galt keine Staatsform für die absolut beste; aber dieser relative Jndifferentis-
mus war nur die Kehrseite der Ueberzeugung, daß jedes Volk, so gewiß es
ein eigenes Volk ist. auch seine eigene Verfassung haben solle und habe. Sich
für einen Monarchisten zu erklären, wäre Lessing nicht eingefallen, ohne zu
sagen, für welches bestimme Land; ebensowenig aber für einen Republicaner
ohne dieselbe nähere Bestimmung." Will man indeß unter Republicaner im
weitern Sinn „Jemand verstehen, der von einer guten Verfassung fordert, daß
sie dem vernünftigen Willen des betreffenden Volks angemessen sei, so war
Lessing unstreitig ein Republicaner." Doch auch das immer nur so, daß ihm
die Staatsverfassung als bloßes Mittel galt, während der Zweck des Staats
über diesen hinauslag, da er den Menschen nicht um des Staates, sondern
den Staat um des Menschen willen geschaffen glaubte (S. 187 f.).

Wir trennen uns von dem Buche des Herrn H. mit dem Wunsche, daß
er sich bald wieder über Lessing vernehmen lasse, und daß seine läutere Art
sich mit Lessing zu beschäftigen Andern zum Muster dienen möge. '




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/118>, abgerufen am 27.12.2024.