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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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geschichtlich nothwendige und im Großen und Ganzen wohlthätige erkennt?
Nur etwa dann, wenn sie sich ihm als eine nicht blos geschichtliche, sondern
nach seinem Urtheil am unrechten Ort oder in unrechter Weise noch gegen¬
wärtige aufdrängt. Im Wesentlichen aber kommt Lessimis angebliche Feind¬
schaft gegen das geschichtliche Christenthum darauf hinaus, daß er es rein
gegenständlich zu fassen sich befliß; was für ihn. da er jene unettlmbaren
göttlichen Gründe nicht in sich spürte, ohne sie darum mißachten, oder sich
ihnen für seine Person absichtlich versperren zu wollen, die einzige seiner selbst
wie der Sache würdige Art wär, es auf sich wirken zu lassen. Es ist trotz
dieser inneren Fremdheit gegen das geschichtliche Christenthum wol selten
Jemandem eine größere Herzenssache gewesen, es zu verstehen, sich für das
Recht desselben zu wehren, und an der Bestimmung desselben, so viel ein ihm.
mitzuarbeiten. Wenn das Christenthum klug ist, so ist ihm eine
solche Feindschaft lieber als gar manche Freundschaft." (S. 88 s.
99 f. 103).

Den Gang, den Lessings theologische Entwickelung genommen. zeichnet
Hehler im Umrisse so: "Nach einer kindlichen Rechtgläubigkeit und darauf
folgendem klüglicher Zweifel, unter Betonung des Praktischen im Christenthum,
ein Ansatz zu einer speculativen Dogmatik; dann bloße Vernunfltheologie;
zuletzt Anerkennung der positiven Religion als der geschichtlichen Entwicklung
der vernünftigen. Ein Fortgang von einem rechtgläubigen Christenthum zu
einer Vernunfltheologie und von einer Stufe dieser zur andern, ohne daß wir
irgendwo einen Sprung sähen" (S. 62 f.).

Als Philosophen nennt der Verfasser Lessing "einen Gelegenheitsdenker
im großen Stil, wie sogar Leibnitz noch ein solcher heißen mag" (S. 116 f.),
und seine Philosophie, sofern das Ganze seiner gelegentlich zu Tage kommen¬
den Weltanschauung so genannt werden kann, bezeichnet er als "einen mit
Hülfe Spinoza's vollbrachten Rückgang von der Leibnitzisch-Wolfischen Zeit¬
philosophie auf die einfachsten Grundgedanken ihres ersten Urhebers, mit selb¬
ständiger Ausführung derselben besonders nach der geschiehts-philosophischen
Seite hin" (S. 137). Dabei kommt er auf den merkwürdigen Umstand zu
reden, daß zwei so geistesverwandte und ebenbürnge Zeitgenossen wie Lessing
und Kant so viel wie keine Notiz von einander genommen haben. Ersterer
von dem Letztern nur in einem Epigramm, von dem Hehler urtheilt, es möchte
wol auf die Kenntnißnahme von dem bloßen Titel der Kantischen Schrift
über die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte (der Philosoph habe dabei
seine eignen zu schätzen vergessen, spottet das Epigramm) entstanden sein, als
"der Schrift eines obscurer Magisters, welcher eine von den größten Gelehrten
der Zeit discuNrte Streitfrage zu lösen unternimmt, und welchem, wenn es
zufällig ein Kant ist, so ein Spaß nicht schadet; oder vielmehr ist es dann


geschichtlich nothwendige und im Großen und Ganzen wohlthätige erkennt?
Nur etwa dann, wenn sie sich ihm als eine nicht blos geschichtliche, sondern
nach seinem Urtheil am unrechten Ort oder in unrechter Weise noch gegen¬
wärtige aufdrängt. Im Wesentlichen aber kommt Lessimis angebliche Feind¬
schaft gegen das geschichtliche Christenthum darauf hinaus, daß er es rein
gegenständlich zu fassen sich befliß; was für ihn. da er jene unettlmbaren
göttlichen Gründe nicht in sich spürte, ohne sie darum mißachten, oder sich
ihnen für seine Person absichtlich versperren zu wollen, die einzige seiner selbst
wie der Sache würdige Art wär, es auf sich wirken zu lassen. Es ist trotz
dieser inneren Fremdheit gegen das geschichtliche Christenthum wol selten
Jemandem eine größere Herzenssache gewesen, es zu verstehen, sich für das
Recht desselben zu wehren, und an der Bestimmung desselben, so viel ein ihm.
mitzuarbeiten. Wenn das Christenthum klug ist, so ist ihm eine
solche Feindschaft lieber als gar manche Freundschaft." (S. 88 s.
99 f. 103).

Den Gang, den Lessings theologische Entwickelung genommen. zeichnet
Hehler im Umrisse so: „Nach einer kindlichen Rechtgläubigkeit und darauf
folgendem klüglicher Zweifel, unter Betonung des Praktischen im Christenthum,
ein Ansatz zu einer speculativen Dogmatik; dann bloße Vernunfltheologie;
zuletzt Anerkennung der positiven Religion als der geschichtlichen Entwicklung
der vernünftigen. Ein Fortgang von einem rechtgläubigen Christenthum zu
einer Vernunfltheologie und von einer Stufe dieser zur andern, ohne daß wir
irgendwo einen Sprung sähen" (S. 62 f.).

Als Philosophen nennt der Verfasser Lessing „einen Gelegenheitsdenker
im großen Stil, wie sogar Leibnitz noch ein solcher heißen mag" (S. 116 f.),
und seine Philosophie, sofern das Ganze seiner gelegentlich zu Tage kommen¬
den Weltanschauung so genannt werden kann, bezeichnet er als „einen mit
Hülfe Spinoza's vollbrachten Rückgang von der Leibnitzisch-Wolfischen Zeit¬
philosophie auf die einfachsten Grundgedanken ihres ersten Urhebers, mit selb¬
ständiger Ausführung derselben besonders nach der geschiehts-philosophischen
Seite hin" (S. 137). Dabei kommt er auf den merkwürdigen Umstand zu
reden, daß zwei so geistesverwandte und ebenbürnge Zeitgenossen wie Lessing
und Kant so viel wie keine Notiz von einander genommen haben. Ersterer
von dem Letztern nur in einem Epigramm, von dem Hehler urtheilt, es möchte
wol auf die Kenntnißnahme von dem bloßen Titel der Kantischen Schrift
über die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte (der Philosoph habe dabei
seine eignen zu schätzen vergessen, spottet das Epigramm) entstanden sein, als
„der Schrift eines obscurer Magisters, welcher eine von den größten Gelehrten
der Zeit discuNrte Streitfrage zu lösen unternimmt, und welchem, wenn es
zufällig ein Kant ist, so ein Spaß nicht schadet; oder vielmehr ist es dann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/116>, abgerufen am 23.07.2024.