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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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der Ihrigen darzustellen, sich mithin, sofern sie irren, an und aus ihm in ih¬
rem Irrthum zu bestärken.

Weil Lessing es bekanntlich nicht mit der damaligen Berliner Aufklärung
hielt, weil er das orthodoxe System seiner Consequenz und der Geistesarbeit
wegen, die zu seinem Aufbau erforderlich gewesen, der Modetheologie seiner
Zeit vorzog, in der er ein folgewidriges, beide Bestandtheile verunstaltendes
Gemisch von Glauben und Wissenschaft erkannte: wird er von unsern Neu-
kirchlichen heute als Gewährsmann aufgerufen, deren Theologie er doch noch
viel ungesunder und "ausstoßender" als die der neumodischen Geistlichen von
damals gefunden haben würde. Aber auch auf der andern Seite, wo man
mehr Recht hat, Lessing für sich in Anspruch zu nehmen, verfährt man dabei
nicht selten ebenso unrecht. Statt vor Allem Lessings Eigenthümlichkeit in
allen ihren Zügen, auch die zunächst befremdlichen nicht ausgenommen, ohne
Abzug oder Zuthat aufzufassen, geht man so zu sagen von einer Kategorien¬
tafel des Freisinns und Fortschritts aus, und sucht nun für alle Rubriken der¬
selben Belege in dem Wesen und Wirken des Mannes beizubringen. Er muß
ein Republikaner, ein Fürstenhasscr. kurz ein Radicaler in jeder Art gewesen
sein, und in solcher Schablonenhaften Betrachtungsweise kommt man von der
Person so weit ab, und redet sich in ein solches Pathos hinein, daß man
nicht mehr fühlt, wie lächerlich es unter Andern: ist. auf Lessings gewiß tief¬
gemüthliche, aber ebenso gewiß ernst männliche, nicht jugendlich empfindsame
Neigung zu seiner nachmaligen Frau Mignons "Nur wer die Sehnsucht kennt"
in Anwendung zu bringen.

So unechtem Tendenzwesen auf beiden Seiten steht die Schrift des
Schweizerischen Gelehrten, die uns zu diesen Betrachtungen veranlaßt, als
durchaus gesunde und erfreuliche Erscheinung gegenüber. Der Verfasser sucht
vor Allem Lessing zu nehmen wie er ist, nicht wie man ihn von dem oder
jenem Parteistandpunkt aus wünschen möchte, und^ dies zu ermitteln steht ihm
ebenso viel Schärfe des Denkens als Feinheit der Empfindung zu Gebot.
Durch solches Verfahren verdirbt er freilich den Tendenzmännern nach beiden
Seiten hin den Spaß, und das ist gleich im ersten Falle jammerschade, da
es wirklich ein Capitalspaß ist, den uns die frommen Herren hier zum Besten
geben. Sie möchten Lessing, den sie geradehin zu den Ihrigen unmöglich
rechnen können, doch als einen solchen darstellen, der mindestens in seiner letz¬
ten Zeit nicht fern vom Reiche Gottes gewesen. Indeß auch das scheint der
Nathan mit seinen f"taten drei Ringen unthunlich zu machen. Wer zwei
Jahre vor seinem Ende den Nathan schrieb, der war augenscheinlich noch
weit von dem, was jene Leute den rechten Weg heißen.

So wie er ,se, steht also der Nathan den Wünschen der Partei entschie¬
den entgegen. Allein er könnte ja auch anders sein. Und er würde anders


der Ihrigen darzustellen, sich mithin, sofern sie irren, an und aus ihm in ih¬
rem Irrthum zu bestärken.

Weil Lessing es bekanntlich nicht mit der damaligen Berliner Aufklärung
hielt, weil er das orthodoxe System seiner Consequenz und der Geistesarbeit
wegen, die zu seinem Aufbau erforderlich gewesen, der Modetheologie seiner
Zeit vorzog, in der er ein folgewidriges, beide Bestandtheile verunstaltendes
Gemisch von Glauben und Wissenschaft erkannte: wird er von unsern Neu-
kirchlichen heute als Gewährsmann aufgerufen, deren Theologie er doch noch
viel ungesunder und „ausstoßender" als die der neumodischen Geistlichen von
damals gefunden haben würde. Aber auch auf der andern Seite, wo man
mehr Recht hat, Lessing für sich in Anspruch zu nehmen, verfährt man dabei
nicht selten ebenso unrecht. Statt vor Allem Lessings Eigenthümlichkeit in
allen ihren Zügen, auch die zunächst befremdlichen nicht ausgenommen, ohne
Abzug oder Zuthat aufzufassen, geht man so zu sagen von einer Kategorien¬
tafel des Freisinns und Fortschritts aus, und sucht nun für alle Rubriken der¬
selben Belege in dem Wesen und Wirken des Mannes beizubringen. Er muß
ein Republikaner, ein Fürstenhasscr. kurz ein Radicaler in jeder Art gewesen
sein, und in solcher Schablonenhaften Betrachtungsweise kommt man von der
Person so weit ab, und redet sich in ein solches Pathos hinein, daß man
nicht mehr fühlt, wie lächerlich es unter Andern: ist. auf Lessings gewiß tief¬
gemüthliche, aber ebenso gewiß ernst männliche, nicht jugendlich empfindsame
Neigung zu seiner nachmaligen Frau Mignons „Nur wer die Sehnsucht kennt"
in Anwendung zu bringen.

So unechtem Tendenzwesen auf beiden Seiten steht die Schrift des
Schweizerischen Gelehrten, die uns zu diesen Betrachtungen veranlaßt, als
durchaus gesunde und erfreuliche Erscheinung gegenüber. Der Verfasser sucht
vor Allem Lessing zu nehmen wie er ist, nicht wie man ihn von dem oder
jenem Parteistandpunkt aus wünschen möchte, und^ dies zu ermitteln steht ihm
ebenso viel Schärfe des Denkens als Feinheit der Empfindung zu Gebot.
Durch solches Verfahren verdirbt er freilich den Tendenzmännern nach beiden
Seiten hin den Spaß, und das ist gleich im ersten Falle jammerschade, da
es wirklich ein Capitalspaß ist, den uns die frommen Herren hier zum Besten
geben. Sie möchten Lessing, den sie geradehin zu den Ihrigen unmöglich
rechnen können, doch als einen solchen darstellen, der mindestens in seiner letz¬
ten Zeit nicht fern vom Reiche Gottes gewesen. Indeß auch das scheint der
Nathan mit seinen f»taten drei Ringen unthunlich zu machen. Wer zwei
Jahre vor seinem Ende den Nathan schrieb, der war augenscheinlich noch
weit von dem, was jene Leute den rechten Weg heißen.

So wie er ,se, steht also der Nathan den Wünschen der Partei entschie¬
den entgegen. Allein er könnte ja auch anders sein. Und er würde anders


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/113>, abgerufen am 27.12.2024.