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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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kennt man ihn nicht mehr. Junge Leute weichen selten den älteren aus, die
ihnen begegnen. Im Wirthshause sprechen nur Bekannte mit einander, mit
Fremden lassen sie sich ungern in ein Gespräch ein. Der Bauer wird sehr
grob, wenn man ihm weniger für seine Marttwaarcn geben will, als er ver¬
langt. Der Dienstbote kündigt ohne Weiteres den Dienst, wenn man eine"
Tadel ausspricht; denn befehlen läßt er sich nichts. Der Handwerker laßt die
angefangene Arbeit stehen, wenn man es anders haben will, als er es macht.
Es ist möglich, daß das Volk, wie man sagt, diese unschönen Manieren und
namentlich diese schroffe Wortkargheit erst in neuester Zeit angenommen hat.
seit das Land sich mit geheimen Spionen und Aufpassern füllte. Wenigstens
besitzt selbst der Bauer eine gewisse Redegabe, welche überhaupt eine Eigen¬
schaft des ganzen Volkes zu sein scheint. Der Ungar spricht correct, meist logisch
richtig, viel und mit lebhaftem Geberdenspiel, während der nationale Ge¬
sang große Ähnlichkeit mit schleppenden katholischen Meßlitaneien hat und
nur aus kurzen Sätzen besteht, welche sich in ermüdender Eintönigkeit wieder¬
holen.

Auf die wissenschaftlichen und literarischen Bestrebungen Ungarns hat das
kräftige Nationalgefühl belebend gewirkt. Zwar besitzt die Nation wenig oder
gar keine literarischen Namen von europäischem Ruf, aber sie hat doch in hun¬
dert Jahren bereits eine reichhaltige Literatur erzeugt, sich eine poetische Sprache
^bildet und steht jetzt im Begriff sich auch eine wissenschaftliche Terminologie
Zu schaffen, und wenn man die Menge der Novitäten mit der geringen Zahl
der Leser vergleicht, auf welche die Verleger rechnen können, muß man vor
dem energischen Aufstreben der jungen Literatur alle Achtung haben.

Jedenfalls würde Ungarn noch glänzendere Resultate aufzuweisen haben,
wenn sich das ganze Lehr- und Unterrichtswesen nicht in den Händen der ka¬
tholischen Geistlichkeit befände, welche weder einen echt historischen Sinn dul¬
det, noch eine freie, von der Dogmatik unabhängige Philosophie aufkommen
läßt, noch von der Besetzung der Lehrstellen durch Katholiken ablassen will.
Ein Studium der Philologie gibt es nicht; denn zu Gymnasiallehrern werden
nur Geistliche genommen, welche wol ihren Katechismus und vielleicht einige
lateinische Kirchenväter, nicht aber ihren Cicero und noch viel weniger den
Plato studirt haben. Es fehlt für tiefere wissenschaftliche Studien also die
elementare Grundlage, eine tüchtige Gymnasialbildung. Die Protestanten
haben in einzelnen Städten nur eine Art theologischer oder juridischer Facultät.
so daß das Zusammenwirken vielseitiger wissenschaftlicher Studien unmöglich
wird. Auch kaun es auf einen Universitätsprofessor eben nicht förderlich wir¬
ken, wenn er zum Besuch der Messe und zur Beichte commandirt wird und
wie ein Schulkunde ein gewissen Tagen beim Pfarrer erscheinen muß, wofern
er nicht notirt werden will. Ein selbständiger, männlicher Charakter kann


kennt man ihn nicht mehr. Junge Leute weichen selten den älteren aus, die
ihnen begegnen. Im Wirthshause sprechen nur Bekannte mit einander, mit
Fremden lassen sie sich ungern in ein Gespräch ein. Der Bauer wird sehr
grob, wenn man ihm weniger für seine Marttwaarcn geben will, als er ver¬
langt. Der Dienstbote kündigt ohne Weiteres den Dienst, wenn man eine»
Tadel ausspricht; denn befehlen läßt er sich nichts. Der Handwerker laßt die
angefangene Arbeit stehen, wenn man es anders haben will, als er es macht.
Es ist möglich, daß das Volk, wie man sagt, diese unschönen Manieren und
namentlich diese schroffe Wortkargheit erst in neuester Zeit angenommen hat.
seit das Land sich mit geheimen Spionen und Aufpassern füllte. Wenigstens
besitzt selbst der Bauer eine gewisse Redegabe, welche überhaupt eine Eigen¬
schaft des ganzen Volkes zu sein scheint. Der Ungar spricht correct, meist logisch
richtig, viel und mit lebhaftem Geberdenspiel, während der nationale Ge¬
sang große Ähnlichkeit mit schleppenden katholischen Meßlitaneien hat und
nur aus kurzen Sätzen besteht, welche sich in ermüdender Eintönigkeit wieder¬
holen.

Auf die wissenschaftlichen und literarischen Bestrebungen Ungarns hat das
kräftige Nationalgefühl belebend gewirkt. Zwar besitzt die Nation wenig oder
gar keine literarischen Namen von europäischem Ruf, aber sie hat doch in hun¬
dert Jahren bereits eine reichhaltige Literatur erzeugt, sich eine poetische Sprache
^bildet und steht jetzt im Begriff sich auch eine wissenschaftliche Terminologie
Zu schaffen, und wenn man die Menge der Novitäten mit der geringen Zahl
der Leser vergleicht, auf welche die Verleger rechnen können, muß man vor
dem energischen Aufstreben der jungen Literatur alle Achtung haben.

Jedenfalls würde Ungarn noch glänzendere Resultate aufzuweisen haben,
wenn sich das ganze Lehr- und Unterrichtswesen nicht in den Händen der ka¬
tholischen Geistlichkeit befände, welche weder einen echt historischen Sinn dul¬
det, noch eine freie, von der Dogmatik unabhängige Philosophie aufkommen
läßt, noch von der Besetzung der Lehrstellen durch Katholiken ablassen will.
Ein Studium der Philologie gibt es nicht; denn zu Gymnasiallehrern werden
nur Geistliche genommen, welche wol ihren Katechismus und vielleicht einige
lateinische Kirchenväter, nicht aber ihren Cicero und noch viel weniger den
Plato studirt haben. Es fehlt für tiefere wissenschaftliche Studien also die
elementare Grundlage, eine tüchtige Gymnasialbildung. Die Protestanten
haben in einzelnen Städten nur eine Art theologischer oder juridischer Facultät.
so daß das Zusammenwirken vielseitiger wissenschaftlicher Studien unmöglich
wird. Auch kaun es auf einen Universitätsprofessor eben nicht förderlich wir¬
ken, wenn er zum Besuch der Messe und zur Beichte commandirt wird und
wie ein Schulkunde ein gewissen Tagen beim Pfarrer erscheinen muß, wofern
er nicht notirt werden will. Ein selbständiger, männlicher Charakter kann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/73>, abgerufen am 22.07.2024.