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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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welche diese Pflicht versäumten, eingeschritten ist, so darf man sich freilich des¬
halb nicht denken, daß die Staatsgewalt eine strenge Controle ausgeübt habe.
Im Gegentheil blieb die Sorge für den Unterricht der Kinder ganz dem elter¬
lichen Pflichtgefühle überlassen und der Staat kümmerte sich weder um die
Schulpflichtigkeit der Kinder noch um die Anstellung und Honorirung der
Lehrer. So sind denn alle griechischen Schulen (denn hierin macht auch
Sparta keine Ausnahme) als Privatanstalten zu betrachten, und umsonst sprach
Platon in seiner idealen Gesetzgebung den Gedanken aus, öffentliche Lehrer
mit festem Gehalte anzustellen und den Eltern die Wahl der Lehrer und
Unterrichtsgegenstände zu entziehen. Privatunternehmen blieb es auch, wenn,
wie Manche behaupten, einzelne Volksabtheilungen und sonstige Genossen¬
schaften ihre Söhne zusammen zu bestimmten^ Lehrern schickten. Dennoch
wirkte Sitte und Nothwendigkeit wohlthätig auf den Schulbesuch ein; überall
scheinen Schulen bestanden zu haben und Fertigkeit im Lesen und Schreiben
darf man selbst beim gemeinen Mann im alten Hellas voraussetzen, während
heute noch in Europa Länder existiren, in denen trotz des Firnisses geistiger
Bildung, der die obern Schichten überzieht, die unterste Kaste noch in der
tiefsten Unwissenheit lebt! Der um's Jahr 300 v. Chr. lebende Philosoph
Theophrast behauptet in seinen Charakterschilderungen, daß alle Hellenen auf
ähnliche Weise gebildet würden. Als die Athener im zweiten Perserkriege
auf Themistokles Rath ihre Weiber und Kinder nach Trözen in Argolis ge¬
bracht hatten, bewiesen sich die Trözenier so freundlich, daß sie nicht nur die
Flüchtlinge auf öffentliche Kosten verpflegten, sondern auch für die Kinder das
Schulgeld bezahlten. Von den Mytilenäern auf Lesbos erzählt der freilich
nicht zuverlässige Kompilator Aelian, daß sie zur Strafe für Abfall ihren
Bundesgenossen verboten hätten, ihre Kinder unterrichten zu lassen, indem
sie es für die schwerste Züchtigung hielten, in Unwissenheit und ohne Bildung
dahinzuleben. Daß es auch Dorfschulen gab, beweist das frühere Leben des
Sophisten Protagmas, der nach Athenäus seine Lehrerlaufbahn in einem
Dorfe begann. Selbst in Sparta, wo die wissenschaftliche Bildung überhaupt
Nebensache war, wurde von der Jugend wenigstens das Lesen und Schreiben
erlernt, und der Unterricht in der Musik gehörte als sittliches Bildungsmittel
mit zu den Gegenständen der vorschriftsmäßigen Unterweisung. Wenn des¬
halb der Redner Jsokrates den Spartanern vorwarf, sie wären so weit in der
allgemeinen Bildung zurück, daß sie nicht einmal die Kenntniß der Buchstaben
besäßen, so war dies eine starke Uebertreibung. Ließen doch sogar die ver¬
bauerten Böotier, an denen man allgemein Mangel an Empfänglichkeit für
geistige Anregung tadelte, ihre Söhne in den Elementen unterrichten. Im
peloponnesischen Kriege überfielen thrakische Landsknechte, die von Athen zum
Kriege gegen Syrakus gedungen worden waren, die kleine böotische Stadt


welche diese Pflicht versäumten, eingeschritten ist, so darf man sich freilich des¬
halb nicht denken, daß die Staatsgewalt eine strenge Controle ausgeübt habe.
Im Gegentheil blieb die Sorge für den Unterricht der Kinder ganz dem elter¬
lichen Pflichtgefühle überlassen und der Staat kümmerte sich weder um die
Schulpflichtigkeit der Kinder noch um die Anstellung und Honorirung der
Lehrer. So sind denn alle griechischen Schulen (denn hierin macht auch
Sparta keine Ausnahme) als Privatanstalten zu betrachten, und umsonst sprach
Platon in seiner idealen Gesetzgebung den Gedanken aus, öffentliche Lehrer
mit festem Gehalte anzustellen und den Eltern die Wahl der Lehrer und
Unterrichtsgegenstände zu entziehen. Privatunternehmen blieb es auch, wenn,
wie Manche behaupten, einzelne Volksabtheilungen und sonstige Genossen¬
schaften ihre Söhne zusammen zu bestimmten^ Lehrern schickten. Dennoch
wirkte Sitte und Nothwendigkeit wohlthätig auf den Schulbesuch ein; überall
scheinen Schulen bestanden zu haben und Fertigkeit im Lesen und Schreiben
darf man selbst beim gemeinen Mann im alten Hellas voraussetzen, während
heute noch in Europa Länder existiren, in denen trotz des Firnisses geistiger
Bildung, der die obern Schichten überzieht, die unterste Kaste noch in der
tiefsten Unwissenheit lebt! Der um's Jahr 300 v. Chr. lebende Philosoph
Theophrast behauptet in seinen Charakterschilderungen, daß alle Hellenen auf
ähnliche Weise gebildet würden. Als die Athener im zweiten Perserkriege
auf Themistokles Rath ihre Weiber und Kinder nach Trözen in Argolis ge¬
bracht hatten, bewiesen sich die Trözenier so freundlich, daß sie nicht nur die
Flüchtlinge auf öffentliche Kosten verpflegten, sondern auch für die Kinder das
Schulgeld bezahlten. Von den Mytilenäern auf Lesbos erzählt der freilich
nicht zuverlässige Kompilator Aelian, daß sie zur Strafe für Abfall ihren
Bundesgenossen verboten hätten, ihre Kinder unterrichten zu lassen, indem
sie es für die schwerste Züchtigung hielten, in Unwissenheit und ohne Bildung
dahinzuleben. Daß es auch Dorfschulen gab, beweist das frühere Leben des
Sophisten Protagmas, der nach Athenäus seine Lehrerlaufbahn in einem
Dorfe begann. Selbst in Sparta, wo die wissenschaftliche Bildung überhaupt
Nebensache war, wurde von der Jugend wenigstens das Lesen und Schreiben
erlernt, und der Unterricht in der Musik gehörte als sittliches Bildungsmittel
mit zu den Gegenständen der vorschriftsmäßigen Unterweisung. Wenn des¬
halb der Redner Jsokrates den Spartanern vorwarf, sie wären so weit in der
allgemeinen Bildung zurück, daß sie nicht einmal die Kenntniß der Buchstaben
besäßen, so war dies eine starke Uebertreibung. Ließen doch sogar die ver¬
bauerten Böotier, an denen man allgemein Mangel an Empfänglichkeit für
geistige Anregung tadelte, ihre Söhne in den Elementen unterrichten. Im
peloponnesischen Kriege überfielen thrakische Landsknechte, die von Athen zum
Kriege gegen Syrakus gedungen worden waren, die kleine böotische Stadt


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[0052] welche diese Pflicht versäumten, eingeschritten ist, so darf man sich freilich des¬ halb nicht denken, daß die Staatsgewalt eine strenge Controle ausgeübt habe. Im Gegentheil blieb die Sorge für den Unterricht der Kinder ganz dem elter¬ lichen Pflichtgefühle überlassen und der Staat kümmerte sich weder um die Schulpflichtigkeit der Kinder noch um die Anstellung und Honorirung der Lehrer. So sind denn alle griechischen Schulen (denn hierin macht auch Sparta keine Ausnahme) als Privatanstalten zu betrachten, und umsonst sprach Platon in seiner idealen Gesetzgebung den Gedanken aus, öffentliche Lehrer mit festem Gehalte anzustellen und den Eltern die Wahl der Lehrer und Unterrichtsgegenstände zu entziehen. Privatunternehmen blieb es auch, wenn, wie Manche behaupten, einzelne Volksabtheilungen und sonstige Genossen¬ schaften ihre Söhne zusammen zu bestimmten^ Lehrern schickten. Dennoch wirkte Sitte und Nothwendigkeit wohlthätig auf den Schulbesuch ein; überall scheinen Schulen bestanden zu haben und Fertigkeit im Lesen und Schreiben darf man selbst beim gemeinen Mann im alten Hellas voraussetzen, während heute noch in Europa Länder existiren, in denen trotz des Firnisses geistiger Bildung, der die obern Schichten überzieht, die unterste Kaste noch in der tiefsten Unwissenheit lebt! Der um's Jahr 300 v. Chr. lebende Philosoph Theophrast behauptet in seinen Charakterschilderungen, daß alle Hellenen auf ähnliche Weise gebildet würden. Als die Athener im zweiten Perserkriege auf Themistokles Rath ihre Weiber und Kinder nach Trözen in Argolis ge¬ bracht hatten, bewiesen sich die Trözenier so freundlich, daß sie nicht nur die Flüchtlinge auf öffentliche Kosten verpflegten, sondern auch für die Kinder das Schulgeld bezahlten. Von den Mytilenäern auf Lesbos erzählt der freilich nicht zuverlässige Kompilator Aelian, daß sie zur Strafe für Abfall ihren Bundesgenossen verboten hätten, ihre Kinder unterrichten zu lassen, indem sie es für die schwerste Züchtigung hielten, in Unwissenheit und ohne Bildung dahinzuleben. Daß es auch Dorfschulen gab, beweist das frühere Leben des Sophisten Protagmas, der nach Athenäus seine Lehrerlaufbahn in einem Dorfe begann. Selbst in Sparta, wo die wissenschaftliche Bildung überhaupt Nebensache war, wurde von der Jugend wenigstens das Lesen und Schreiben erlernt, und der Unterricht in der Musik gehörte als sittliches Bildungsmittel mit zu den Gegenständen der vorschriftsmäßigen Unterweisung. Wenn des¬ halb der Redner Jsokrates den Spartanern vorwarf, sie wären so weit in der allgemeinen Bildung zurück, daß sie nicht einmal die Kenntniß der Buchstaben besäßen, so war dies eine starke Uebertreibung. Ließen doch sogar die ver¬ bauerten Böotier, an denen man allgemein Mangel an Empfänglichkeit für geistige Anregung tadelte, ihre Söhne in den Elementen unterrichten. Im peloponnesischen Kriege überfielen thrakische Landsknechte, die von Athen zum Kriege gegen Syrakus gedungen worden waren, die kleine böotische Stadt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/52>, abgerufen am 22.07.2024.