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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Züge des Lebens zum vollen Schein der Wirklichkeit ausprägt und die innere
Bewegung sowol im stummen Geberdenspiel als im klangvollen Fluß,
Schwung und Fall der Sprache ganz in die Erscheinung der Persönlichkeit
übersetzt, ein Spiel, welches in das Ganze sich einlebt, aus diesem die ein¬
zelne Gestalt herauswachsen läßt und daher im Einklang des Zusammen-
Wirkens ein Ensemble gibt: von einer solchen künstlerischen Realität hat die
deutsche Bühne trotz einzelner hervorragender Talente kaum eine Ahnung.
Das deutsche Spiel ist holprig, geht auf Stelzen, stolpert, hinkt oder überstürzt
sich, wedelt und tänzelt, macht Fratzen, rennt an die Coulissen, treibt statt Mi¬
mik Heilgymnastik; im leichten Lustspiel gar ist es wie der schüchterne junge
Mensch, der zum ersten Mal in einen Salon tritt und linkisch seinen Hut be¬
arbeitet, bis er in der Angst seines Herzens grob und frech wird. Der Fran¬
zose ist ein geborner Schauspieler, und dazu kommt dem wirklichen Mimen die aus¬
gebildete Sitte, die durchgängige Lebensform zu gute. Er weiß zu reden, was in
ihm ist gehörig und treffend auszudrücken, versteht sich zu bewegen und den
Körper zu beherrschen, und wie der Franzose in der Wirklichkeit fast immer
seine Umgebung im Paterre, sich auf der Bühne sieht, so weiß umgekehrt der
Schauspieler auf der Bühne sich ganz in die Wirklichkeit zu versetzen; wobei
ihm dann wieder Ton und Form der Gesellschaft eine glückliche Grenze zie¬
hen. Dabei ist er bei der Sache und pflanzt nicht breit und plump sein
Spiel vor den Zuschauer hin. Und indem das Werk des Dichters in ihm
lebendig wird, weiß er auch die wortkargen Empfindungen, die jener nur an¬
deutet, in wirksamer Mimik auszudrücken. Natürlich bildet sich dieses Talent
hie und da zur Virtuosität aus, die auf selbständige Geltung Anspruch macht
und sich Rollen sucht, in denen sich in dem jähen Wechsel einer im Geleise
des Alltäglichen verlaufenden Stimmung mit den wilden Sprüngen der Leiden¬
schaft alle Kunst aufbieten läßt. Solche Talente haben das Gefährliche, daß
sie Stücke in's Leben rufen, die ganz nach dem Schnitt ihrer Kunstfertigkeit
gemodelt werden und ihre Wirkung lediglich in dieser Darstellung haben.
Andrerseits überschreiten sie in der Ueberfülle ihrer Kraft und dem Bewußt¬
sein ihrer packenden Persönlichkeit leicht die Grenze des ästhetisch Erlaubten,
um mit abschreckenden Realismus womöglich die Wahrheit der Natur zu
überbieten. Diese doppelte Verirrung zeigt sich z. B. in dem für die Ristori
geschriebenen Drama Beatrix v. LegouvS: eine Schauspielerin ersten Rangs
geräth in die Kollision ihrer Kunst mit der Liebe, da sie nur in der Keusch¬
heit die Kraft ihres Talentes findet und dennoch einen Prinzen liebt; ein
fortwährender Kampf, in dem sie. um ihre Leidenschaft zu verbergen, ihre Fer¬
tigkeit an ihrer eigenen Seele üben muß, bis sie in der Darstellung der
Grabessccne aus Romeo und Julie ihre ganze Leidenschaft ausläßt, wo
denn auch die Ristori den Schmerz in voller, abstoßender Natürlichkeit dar-


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Züge des Lebens zum vollen Schein der Wirklichkeit ausprägt und die innere
Bewegung sowol im stummen Geberdenspiel als im klangvollen Fluß,
Schwung und Fall der Sprache ganz in die Erscheinung der Persönlichkeit
übersetzt, ein Spiel, welches in das Ganze sich einlebt, aus diesem die ein¬
zelne Gestalt herauswachsen läßt und daher im Einklang des Zusammen-
Wirkens ein Ensemble gibt: von einer solchen künstlerischen Realität hat die
deutsche Bühne trotz einzelner hervorragender Talente kaum eine Ahnung.
Das deutsche Spiel ist holprig, geht auf Stelzen, stolpert, hinkt oder überstürzt
sich, wedelt und tänzelt, macht Fratzen, rennt an die Coulissen, treibt statt Mi¬
mik Heilgymnastik; im leichten Lustspiel gar ist es wie der schüchterne junge
Mensch, der zum ersten Mal in einen Salon tritt und linkisch seinen Hut be¬
arbeitet, bis er in der Angst seines Herzens grob und frech wird. Der Fran¬
zose ist ein geborner Schauspieler, und dazu kommt dem wirklichen Mimen die aus¬
gebildete Sitte, die durchgängige Lebensform zu gute. Er weiß zu reden, was in
ihm ist gehörig und treffend auszudrücken, versteht sich zu bewegen und den
Körper zu beherrschen, und wie der Franzose in der Wirklichkeit fast immer
seine Umgebung im Paterre, sich auf der Bühne sieht, so weiß umgekehrt der
Schauspieler auf der Bühne sich ganz in die Wirklichkeit zu versetzen; wobei
ihm dann wieder Ton und Form der Gesellschaft eine glückliche Grenze zie¬
hen. Dabei ist er bei der Sache und pflanzt nicht breit und plump sein
Spiel vor den Zuschauer hin. Und indem das Werk des Dichters in ihm
lebendig wird, weiß er auch die wortkargen Empfindungen, die jener nur an¬
deutet, in wirksamer Mimik auszudrücken. Natürlich bildet sich dieses Talent
hie und da zur Virtuosität aus, die auf selbständige Geltung Anspruch macht
und sich Rollen sucht, in denen sich in dem jähen Wechsel einer im Geleise
des Alltäglichen verlaufenden Stimmung mit den wilden Sprüngen der Leiden¬
schaft alle Kunst aufbieten läßt. Solche Talente haben das Gefährliche, daß
sie Stücke in's Leben rufen, die ganz nach dem Schnitt ihrer Kunstfertigkeit
gemodelt werden und ihre Wirkung lediglich in dieser Darstellung haben.
Andrerseits überschreiten sie in der Ueberfülle ihrer Kraft und dem Bewußt¬
sein ihrer packenden Persönlichkeit leicht die Grenze des ästhetisch Erlaubten,
um mit abschreckenden Realismus womöglich die Wahrheit der Natur zu
überbieten. Diese doppelte Verirrung zeigt sich z. B. in dem für die Ristori
geschriebenen Drama Beatrix v. LegouvS: eine Schauspielerin ersten Rangs
geräth in die Kollision ihrer Kunst mit der Liebe, da sie nur in der Keusch¬
heit die Kraft ihres Talentes findet und dennoch einen Prinzen liebt; ein
fortwährender Kampf, in dem sie. um ihre Leidenschaft zu verbergen, ihre Fer¬
tigkeit an ihrer eigenen Seele üben muß, bis sie in der Darstellung der
Grabessccne aus Romeo und Julie ihre ganze Leidenschaft ausläßt, wo
denn auch die Ristori den Schmerz in voller, abstoßender Natürlichkeit dar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/237>, abgerufen am 27.08.2024.