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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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die Privatexistenz werfen. Die Erinnerung an die wilde Einmischung der
untersten Volksmasse und an die angestrengte Arbeit, die den Genuß der Selbst¬
regierung überwiegt, benimmt ihnen für's Erste die Lust zu neuen Experi¬
menten, und wenn nur die Staatsgewalt den nationalen Ruhm zu wahren,
die nationalen Schwächen zu schonen weiß, so geben sie ihr und dem Himmel
das innere und äußere Schicksal des Landes anheim.

Und im Stillen grollend und lauernd bessere Zeiten abzupassen, dazu
fühlt sich die Nation zu aufgeklärt und lebelustig. Jede Klasse weiß mit
ihren eignen Interessen die Tage besser und angenehmer auszufüllen und die
lästige Empfindung des öffentlichen Drucks sich wegzulügen, indem sie die
Dinge eben als unbekümmerter Zuschauer nimmt, wie sie sind. Keine will
handeln, oder so paradox das klingt, sie wollen nicht wollen. Der Franzose
ist von Haus aus wenig geeignet, in regelmüßiger Sorge den Antheil an den
Staatssachen mit seinen eigenen Geschäften zu verbinden, vielmehr immer
geneigt, alle Lasten und Mühen von seinen Schultern auf den breiten Rücken
der Regierung abzuwälzen; nun, da diese klug und stark genug ist, sie ihm ab¬
zunehmen , sollte er Umstände machen? Keine Klasse strebt danach, als ein
festes Ganze auf die Leitung der Dinge Einfluß zu gewinnen. Vielmehr geht
jede darauf aus. die nächste über ihr zu werden; so verwischen sich die Unter¬
schiede fortwährend, die verschiedenen Kreise wechseln, gehen ineinander über,
es ist nirgends ein Halt, nirgends kann sich eine durchgreifende, durch ihre
Unwandelbarkeit mächtige Gesinnung bilden; denn was dem Individuum von
öffentlichem Interesse allenfalls noch bleibt, das nimmt in der neuen Sphäre
eine andere Form, einen neuen Inhalt an. So empfindet weder der Einzelne
noch diese, noch jene Klasse den Trieb, in das Staatswesen einzugreifen. Der
Sturz des Kaiserreichs ist seit seinem Anfange alljährlich von verschiedenen
Seiten mit unerschütterlicher Bestimmtheit prophezeit worden; es wird auch
"un nicht fallen, obwol es die Sympathien des Bürgerthums verloren hat.
Denn dieses, zu neuen Dingen immer verzagt, in der bedächtigen Sorge um
seinen Besitz befangen, ist in politischer Hinsicht eine zusammengeschlossene,
unternehmende Macht noch weniger als jede andere Klasse. Der Franzose,
von Natur aus Epikuräer, hat diesmal das vom Stoiker, daß er sich gefügig
^ seine Lage schickt, auch wo sie ihm unbequem ist; er nimmt sie für die
Möglich wenigstens für besser, als die ein Umschwung ihm bringen
könnte.''''''-

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Aber dies bloße Zusehen, dies leidende Verhalten hat für beide Theile,
das Kaiserthum sowol als die Nation, seine Folgen. Es fehlt den Unter¬
nehmungen der Negierung mit der nationalen Theilnahme der frische, bewegte
^Ug des Lebens, die Sicherheit des natürlichen Entstehens; und bei aller Ge¬
schäftigkeit, bei allen den Anläufen zu neuen und großen Dingen ist im Leben


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die Privatexistenz werfen. Die Erinnerung an die wilde Einmischung der
untersten Volksmasse und an die angestrengte Arbeit, die den Genuß der Selbst¬
regierung überwiegt, benimmt ihnen für's Erste die Lust zu neuen Experi¬
menten, und wenn nur die Staatsgewalt den nationalen Ruhm zu wahren,
die nationalen Schwächen zu schonen weiß, so geben sie ihr und dem Himmel
das innere und äußere Schicksal des Landes anheim.

Und im Stillen grollend und lauernd bessere Zeiten abzupassen, dazu
fühlt sich die Nation zu aufgeklärt und lebelustig. Jede Klasse weiß mit
ihren eignen Interessen die Tage besser und angenehmer auszufüllen und die
lästige Empfindung des öffentlichen Drucks sich wegzulügen, indem sie die
Dinge eben als unbekümmerter Zuschauer nimmt, wie sie sind. Keine will
handeln, oder so paradox das klingt, sie wollen nicht wollen. Der Franzose
ist von Haus aus wenig geeignet, in regelmüßiger Sorge den Antheil an den
Staatssachen mit seinen eigenen Geschäften zu verbinden, vielmehr immer
geneigt, alle Lasten und Mühen von seinen Schultern auf den breiten Rücken
der Regierung abzuwälzen; nun, da diese klug und stark genug ist, sie ihm ab¬
zunehmen , sollte er Umstände machen? Keine Klasse strebt danach, als ein
festes Ganze auf die Leitung der Dinge Einfluß zu gewinnen. Vielmehr geht
jede darauf aus. die nächste über ihr zu werden; so verwischen sich die Unter¬
schiede fortwährend, die verschiedenen Kreise wechseln, gehen ineinander über,
es ist nirgends ein Halt, nirgends kann sich eine durchgreifende, durch ihre
Unwandelbarkeit mächtige Gesinnung bilden; denn was dem Individuum von
öffentlichem Interesse allenfalls noch bleibt, das nimmt in der neuen Sphäre
eine andere Form, einen neuen Inhalt an. So empfindet weder der Einzelne
noch diese, noch jene Klasse den Trieb, in das Staatswesen einzugreifen. Der
Sturz des Kaiserreichs ist seit seinem Anfange alljährlich von verschiedenen
Seiten mit unerschütterlicher Bestimmtheit prophezeit worden; es wird auch
"un nicht fallen, obwol es die Sympathien des Bürgerthums verloren hat.
Denn dieses, zu neuen Dingen immer verzagt, in der bedächtigen Sorge um
seinen Besitz befangen, ist in politischer Hinsicht eine zusammengeschlossene,
unternehmende Macht noch weniger als jede andere Klasse. Der Franzose,
von Natur aus Epikuräer, hat diesmal das vom Stoiker, daß er sich gefügig
^ seine Lage schickt, auch wo sie ihm unbequem ist; er nimmt sie für die
Möglich wenigstens für besser, als die ein Umschwung ihm bringen
könnte.''''''-

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Aber dies bloße Zusehen, dies leidende Verhalten hat für beide Theile,
das Kaiserthum sowol als die Nation, seine Folgen. Es fehlt den Unter¬
nehmungen der Negierung mit der nationalen Theilnahme der frische, bewegte
^Ug des Lebens, die Sicherheit des natürlichen Entstehens; und bei aller Ge¬
schäftigkeit, bei allen den Anläufen zu neuen und großen Dingen ist im Leben


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[0221] die Privatexistenz werfen. Die Erinnerung an die wilde Einmischung der untersten Volksmasse und an die angestrengte Arbeit, die den Genuß der Selbst¬ regierung überwiegt, benimmt ihnen für's Erste die Lust zu neuen Experi¬ menten, und wenn nur die Staatsgewalt den nationalen Ruhm zu wahren, die nationalen Schwächen zu schonen weiß, so geben sie ihr und dem Himmel das innere und äußere Schicksal des Landes anheim. Und im Stillen grollend und lauernd bessere Zeiten abzupassen, dazu fühlt sich die Nation zu aufgeklärt und lebelustig. Jede Klasse weiß mit ihren eignen Interessen die Tage besser und angenehmer auszufüllen und die lästige Empfindung des öffentlichen Drucks sich wegzulügen, indem sie die Dinge eben als unbekümmerter Zuschauer nimmt, wie sie sind. Keine will handeln, oder so paradox das klingt, sie wollen nicht wollen. Der Franzose ist von Haus aus wenig geeignet, in regelmüßiger Sorge den Antheil an den Staatssachen mit seinen eigenen Geschäften zu verbinden, vielmehr immer geneigt, alle Lasten und Mühen von seinen Schultern auf den breiten Rücken der Regierung abzuwälzen; nun, da diese klug und stark genug ist, sie ihm ab¬ zunehmen , sollte er Umstände machen? Keine Klasse strebt danach, als ein festes Ganze auf die Leitung der Dinge Einfluß zu gewinnen. Vielmehr geht jede darauf aus. die nächste über ihr zu werden; so verwischen sich die Unter¬ schiede fortwährend, die verschiedenen Kreise wechseln, gehen ineinander über, es ist nirgends ein Halt, nirgends kann sich eine durchgreifende, durch ihre Unwandelbarkeit mächtige Gesinnung bilden; denn was dem Individuum von öffentlichem Interesse allenfalls noch bleibt, das nimmt in der neuen Sphäre eine andere Form, einen neuen Inhalt an. So empfindet weder der Einzelne noch diese, noch jene Klasse den Trieb, in das Staatswesen einzugreifen. Der Sturz des Kaiserreichs ist seit seinem Anfange alljährlich von verschiedenen Seiten mit unerschütterlicher Bestimmtheit prophezeit worden; es wird auch "un nicht fallen, obwol es die Sympathien des Bürgerthums verloren hat. Denn dieses, zu neuen Dingen immer verzagt, in der bedächtigen Sorge um seinen Besitz befangen, ist in politischer Hinsicht eine zusammengeschlossene, unternehmende Macht noch weniger als jede andere Klasse. Der Franzose, von Natur aus Epikuräer, hat diesmal das vom Stoiker, daß er sich gefügig ^ seine Lage schickt, auch wo sie ihm unbequem ist; er nimmt sie für die Möglich wenigstens für besser, als die ein Umschwung ihm bringen könnte.''''''- .,-.,.-. Aber dies bloße Zusehen, dies leidende Verhalten hat für beide Theile, das Kaiserthum sowol als die Nation, seine Folgen. Es fehlt den Unter¬ nehmungen der Negierung mit der nationalen Theilnahme der frische, bewegte ^Ug des Lebens, die Sicherheit des natürlichen Entstehens; und bei aller Ge¬ schäftigkeit, bei allen den Anläufen zu neuen und großen Dingen ist im Leben 27"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/221>, abgerufen am 25.08.2024.