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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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zugeben. Am kecken Werke des Genies verschwindet der Fehler; die müh¬
same Arbeit des bloßen Talentes kann er geradezu zerstören. Daß der Künstler
vor Allem lernen muß, scheint dem neuen Zeitalter bei uns wenigstens nicht
eingehen zu wollen. Es kommt nachgerade außer Brauch, Schiller und Goethe
zu citiren; aber es finden sich in ihnen goldene Sprüche, die immer beherzigens-
werth bleiben. Schiller wußte, was uns noth thut; der Dilettantismus in
der Kunst war ihm zuwider, und es ist, wie wenn er für das jetzige Ge¬
schlecht geschrieben hatte: "Selbst der Künstler und Dichter, obgleich beide nur
für das Wohlgefallen bei der Betrachtung arbeiten, können nur durch ein an¬
strengendes und nichts weniger als reizendes Studium dahin gelangen, daß
ihre Werke uns spielend ergötzen. -- -- Der verführerische Reiz des Großen
und Schönen, das Feuer, womit es die jugendliche Imagination entzündet,
und der Anschein von Leichtigkeit, womit es die Sinne täuscht, haben schon
manchen Unerfahrenen beredet, Palette oder Leyer zu ergreifen und auszu¬
gießen in Gestalten oder Tönen, was in ihm lebendig wurde. In seinem
Kopf arbeiten dunkle Ideen wie eine werdende Welt, die ihn glauben macheu,
daß er begeistert sei. Er nimmt das Dunkle für das Tiefe, das Wilde für
das Kräftige, das Unbestimmte für das Unendliche, das Sinnlose für das
Ueberhimmlische -- und wie gesällt er sich nicht in seiner Geburt! -- -- Das
echte Kunstgenie' ist immer daran zu erkennen, daß es, bei dem glühendsten
Gefühl für das Ganze. Kälte und ausdauernde Geduld für das Einzelne be¬
hält und, um der Vollkommenheit keinen Abbruch zu thun, lieber den Genuß
der Vollendung opfert."

Nur scheuen wir die Arbeit, nicht weil uns der Productionstrieb aus
der strengen Zucht der Schule zerrt, sondern aus der selbstgefälligen Ueber¬
zeugung, daß wir es weit genug gebracht haben, um in allen Kunstgattungen
ganz Vortreffliches zu leisten. Doch darüber ausführlicher zu reden, ist anderswo
der Ort. Hier nur soviel: wir thäten besser uns zu bescheiden, uns nicht z"
überschätzen und nicht auf den Verfall einer fremden Kunst zu pochen, die wir in
vielen Fällen nur erreichen, indem wir sie nachahmen. Beiläufig gesagt, ziemte
uns diese Bescheidenheit nicht bloß der französischen Malerei gegenüber. Auch
ihrer Architektur, so wenig sie mustergültig sein kann, mag die unsrige -- Ein-
zelnes immer ausgenommen -- den Vorrang einräumen; und was die Dich¬
tung anbelangt, so könnten unsere Bühnen wenigstens nicht einmal mit todt¬
geborenen Novitäten ihr Leben fristen, wenn sie auf die leichte Waare der
französischen Lustspiele und Dramen verzichten sollten.

Aber ehe wir zur französischen Kunst uns wenden, drängt sich eine Frage
auf. die uns zu nahe angeht, als daß wir ihr ausweichen sollten. Wie innig
es um die deutsche Kunst stehen, wenn ihr die französische noch in ihrem Ver¬
fall in wesentlichen Dingen überlegen ist? Die moderne Acsthcstik hat eine


zugeben. Am kecken Werke des Genies verschwindet der Fehler; die müh¬
same Arbeit des bloßen Talentes kann er geradezu zerstören. Daß der Künstler
vor Allem lernen muß, scheint dem neuen Zeitalter bei uns wenigstens nicht
eingehen zu wollen. Es kommt nachgerade außer Brauch, Schiller und Goethe
zu citiren; aber es finden sich in ihnen goldene Sprüche, die immer beherzigens-
werth bleiben. Schiller wußte, was uns noth thut; der Dilettantismus in
der Kunst war ihm zuwider, und es ist, wie wenn er für das jetzige Ge¬
schlecht geschrieben hatte: „Selbst der Künstler und Dichter, obgleich beide nur
für das Wohlgefallen bei der Betrachtung arbeiten, können nur durch ein an¬
strengendes und nichts weniger als reizendes Studium dahin gelangen, daß
ihre Werke uns spielend ergötzen. — — Der verführerische Reiz des Großen
und Schönen, das Feuer, womit es die jugendliche Imagination entzündet,
und der Anschein von Leichtigkeit, womit es die Sinne täuscht, haben schon
manchen Unerfahrenen beredet, Palette oder Leyer zu ergreifen und auszu¬
gießen in Gestalten oder Tönen, was in ihm lebendig wurde. In seinem
Kopf arbeiten dunkle Ideen wie eine werdende Welt, die ihn glauben macheu,
daß er begeistert sei. Er nimmt das Dunkle für das Tiefe, das Wilde für
das Kräftige, das Unbestimmte für das Unendliche, das Sinnlose für das
Ueberhimmlische — und wie gesällt er sich nicht in seiner Geburt! — — Das
echte Kunstgenie' ist immer daran zu erkennen, daß es, bei dem glühendsten
Gefühl für das Ganze. Kälte und ausdauernde Geduld für das Einzelne be¬
hält und, um der Vollkommenheit keinen Abbruch zu thun, lieber den Genuß
der Vollendung opfert."

Nur scheuen wir die Arbeit, nicht weil uns der Productionstrieb aus
der strengen Zucht der Schule zerrt, sondern aus der selbstgefälligen Ueber¬
zeugung, daß wir es weit genug gebracht haben, um in allen Kunstgattungen
ganz Vortreffliches zu leisten. Doch darüber ausführlicher zu reden, ist anderswo
der Ort. Hier nur soviel: wir thäten besser uns zu bescheiden, uns nicht z"
überschätzen und nicht auf den Verfall einer fremden Kunst zu pochen, die wir in
vielen Fällen nur erreichen, indem wir sie nachahmen. Beiläufig gesagt, ziemte
uns diese Bescheidenheit nicht bloß der französischen Malerei gegenüber. Auch
ihrer Architektur, so wenig sie mustergültig sein kann, mag die unsrige — Ein-
zelnes immer ausgenommen — den Vorrang einräumen; und was die Dich¬
tung anbelangt, so könnten unsere Bühnen wenigstens nicht einmal mit todt¬
geborenen Novitäten ihr Leben fristen, wenn sie auf die leichte Waare der
französischen Lustspiele und Dramen verzichten sollten.

Aber ehe wir zur französischen Kunst uns wenden, drängt sich eine Frage
auf. die uns zu nahe angeht, als daß wir ihr ausweichen sollten. Wie innig
es um die deutsche Kunst stehen, wenn ihr die französische noch in ihrem Ver¬
fall in wesentlichen Dingen überlegen ist? Die moderne Acsthcstik hat eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/120>, abgerufen am 23.12.2024.