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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Wir haben von der Demokratie nur denjenigen Theil in's Auge gefaßt,
der sich auf dem Boden des Gesetzes und der natürlichen Verhältnisse be¬
wegt, nur denjenigen Theil, der sich auf das Kleinbürgerthum, nicht den
revolutionären, der sich auf das Proletariat stützt. Von jenem ersten Theil
gilt, was wir in den Wahlagitationen von 1848 und später beobachtet
haben.

Das Kleinbürgerthum unterscheidet sich von dem Großbürgerthum durch
zwei wesentliche Umstände, von denen auch die Art und Weise abhängig ist,
wie man auf beides wirkt. Jenes ist durch seine ganze Bildungssphäre auf
einen engen Gesichtskreis eingeschränkt, es kann politische Fragen, die einiger¬
maßen verwickelt sind, nicht im Detail, sondern nur nach allgemeinen Gesichts¬
punkten beurtheilen, die man ausdrücklich dafür zurecht macht; es wird also,
abgesehen von den Fragen des Interesses (darin ist zwischen den beiden Klas¬
sen kein Unterschied!) hauptsächlich durch die Phrase und das Gefühl bestimmt.
Es liebt die Worte Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit, Vaterland u. s. w..
und mit dem "brechenden Sonnenauge der Freiheit" sind damals demokratische
Kandidaten sehr weit gekommen. Solche Redensarten verfangen bei der ersten
Klasse des Bürgerthums nichts; bei ihr wird man eher wirken, wenn man
Alles im Detail auseinandersetzt und "den Umständen Rechnung trägt." Man
sage nicht, daß dies sich bloß auf die Mittel bezieht, nicht auf den Zweck; auf
die Art und Weise, wie man die Wähler gewinnt, nicht auf den politischen
Inhalt der Partei: -- beides hängt enger zusammen als man glaubt, und
es ist sehr bezeichnend, daß 1848 aus der ersten Klasse die kleindeursche. aus
der zweiten die großdeutsche Partei hervorging.

Eben so wichtig ist der zweite Unterschied; die erste Klasse jves Bürgerthums
hat eine natürliche Vorliebe für die studirten Leute und wird nicht leicht an¬
dern ihr Vertrauen schenken, die zweite dagegen ist mit einer geheimen Eifer¬
sucht gegen alle Bildung erfüllt. Fast durchweg wurde 1848 diese Classe ge¬
warnt, vor Allem gegen die Gelehrten mißtrauisch zu sein: entweder weil
diese mit den Aristokraten, mit denen sie ja zusammen studirt, unter einer
Decke stacken, oder weil sie durch zu vieles Bücherlesen und durch das Sitzen
hinter dem Schreibtisch ihre Thatkraft verkümmert habe. "Ihr Männer des
Volks! pflegte man die versammelten Schneider. Cigarrenhündler, Postboten,
Schullehrer. Calculatoren u. s. w. anzureden, in Euch lebt noch die alte
deutsche Manneskraft! Ihr habt Euch den Kops nicht durch die Lectüre Montes¬
quieu's und ähnlicher Sophisten verdreht, Ihr habt nicht bei den Aristokraten
zu Tische gesessen! Euer Wille wird nicht durch feige Kenntnisse gelähmt! Euer
Trumpf ist. Mir nichts. Dir nichts!"

Ist das etwa übertrieben? Lauteten, wenige Ausnahmen abgerechnet, die
damaligen Reden nicht wirklich so? --

Es ist ein großes, nicht genug zu rühmendes Verdienst der Nationalzei¬
tung, daß sie seit einer Reihe von Jahren ihr Publicum durch größere und


Wir haben von der Demokratie nur denjenigen Theil in's Auge gefaßt,
der sich auf dem Boden des Gesetzes und der natürlichen Verhältnisse be¬
wegt, nur denjenigen Theil, der sich auf das Kleinbürgerthum, nicht den
revolutionären, der sich auf das Proletariat stützt. Von jenem ersten Theil
gilt, was wir in den Wahlagitationen von 1848 und später beobachtet
haben.

Das Kleinbürgerthum unterscheidet sich von dem Großbürgerthum durch
zwei wesentliche Umstände, von denen auch die Art und Weise abhängig ist,
wie man auf beides wirkt. Jenes ist durch seine ganze Bildungssphäre auf
einen engen Gesichtskreis eingeschränkt, es kann politische Fragen, die einiger¬
maßen verwickelt sind, nicht im Detail, sondern nur nach allgemeinen Gesichts¬
punkten beurtheilen, die man ausdrücklich dafür zurecht macht; es wird also,
abgesehen von den Fragen des Interesses (darin ist zwischen den beiden Klas¬
sen kein Unterschied!) hauptsächlich durch die Phrase und das Gefühl bestimmt.
Es liebt die Worte Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit, Vaterland u. s. w..
und mit dem „brechenden Sonnenauge der Freiheit" sind damals demokratische
Kandidaten sehr weit gekommen. Solche Redensarten verfangen bei der ersten
Klasse des Bürgerthums nichts; bei ihr wird man eher wirken, wenn man
Alles im Detail auseinandersetzt und „den Umständen Rechnung trägt." Man
sage nicht, daß dies sich bloß auf die Mittel bezieht, nicht auf den Zweck; auf
die Art und Weise, wie man die Wähler gewinnt, nicht auf den politischen
Inhalt der Partei: — beides hängt enger zusammen als man glaubt, und
es ist sehr bezeichnend, daß 1848 aus der ersten Klasse die kleindeursche. aus
der zweiten die großdeutsche Partei hervorging.

Eben so wichtig ist der zweite Unterschied; die erste Klasse jves Bürgerthums
hat eine natürliche Vorliebe für die studirten Leute und wird nicht leicht an¬
dern ihr Vertrauen schenken, die zweite dagegen ist mit einer geheimen Eifer¬
sucht gegen alle Bildung erfüllt. Fast durchweg wurde 1848 diese Classe ge¬
warnt, vor Allem gegen die Gelehrten mißtrauisch zu sein: entweder weil
diese mit den Aristokraten, mit denen sie ja zusammen studirt, unter einer
Decke stacken, oder weil sie durch zu vieles Bücherlesen und durch das Sitzen
hinter dem Schreibtisch ihre Thatkraft verkümmert habe. „Ihr Männer des
Volks! pflegte man die versammelten Schneider. Cigarrenhündler, Postboten,
Schullehrer. Calculatoren u. s. w. anzureden, in Euch lebt noch die alte
deutsche Manneskraft! Ihr habt Euch den Kops nicht durch die Lectüre Montes¬
quieu's und ähnlicher Sophisten verdreht, Ihr habt nicht bei den Aristokraten
zu Tische gesessen! Euer Wille wird nicht durch feige Kenntnisse gelähmt! Euer
Trumpf ist. Mir nichts. Dir nichts!"

Ist das etwa übertrieben? Lauteten, wenige Ausnahmen abgerechnet, die
damaligen Reden nicht wirklich so? —

Es ist ein großes, nicht genug zu rühmendes Verdienst der Nationalzei¬
tung, daß sie seit einer Reihe von Jahren ihr Publicum durch größere und


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[0529] Wir haben von der Demokratie nur denjenigen Theil in's Auge gefaßt, der sich auf dem Boden des Gesetzes und der natürlichen Verhältnisse be¬ wegt, nur denjenigen Theil, der sich auf das Kleinbürgerthum, nicht den revolutionären, der sich auf das Proletariat stützt. Von jenem ersten Theil gilt, was wir in den Wahlagitationen von 1848 und später beobachtet haben. Das Kleinbürgerthum unterscheidet sich von dem Großbürgerthum durch zwei wesentliche Umstände, von denen auch die Art und Weise abhängig ist, wie man auf beides wirkt. Jenes ist durch seine ganze Bildungssphäre auf einen engen Gesichtskreis eingeschränkt, es kann politische Fragen, die einiger¬ maßen verwickelt sind, nicht im Detail, sondern nur nach allgemeinen Gesichts¬ punkten beurtheilen, die man ausdrücklich dafür zurecht macht; es wird also, abgesehen von den Fragen des Interesses (darin ist zwischen den beiden Klas¬ sen kein Unterschied!) hauptsächlich durch die Phrase und das Gefühl bestimmt. Es liebt die Worte Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit, Vaterland u. s. w.. und mit dem „brechenden Sonnenauge der Freiheit" sind damals demokratische Kandidaten sehr weit gekommen. Solche Redensarten verfangen bei der ersten Klasse des Bürgerthums nichts; bei ihr wird man eher wirken, wenn man Alles im Detail auseinandersetzt und „den Umständen Rechnung trägt." Man sage nicht, daß dies sich bloß auf die Mittel bezieht, nicht auf den Zweck; auf die Art und Weise, wie man die Wähler gewinnt, nicht auf den politischen Inhalt der Partei: — beides hängt enger zusammen als man glaubt, und es ist sehr bezeichnend, daß 1848 aus der ersten Klasse die kleindeursche. aus der zweiten die großdeutsche Partei hervorging. Eben so wichtig ist der zweite Unterschied; die erste Klasse jves Bürgerthums hat eine natürliche Vorliebe für die studirten Leute und wird nicht leicht an¬ dern ihr Vertrauen schenken, die zweite dagegen ist mit einer geheimen Eifer¬ sucht gegen alle Bildung erfüllt. Fast durchweg wurde 1848 diese Classe ge¬ warnt, vor Allem gegen die Gelehrten mißtrauisch zu sein: entweder weil diese mit den Aristokraten, mit denen sie ja zusammen studirt, unter einer Decke stacken, oder weil sie durch zu vieles Bücherlesen und durch das Sitzen hinter dem Schreibtisch ihre Thatkraft verkümmert habe. „Ihr Männer des Volks! pflegte man die versammelten Schneider. Cigarrenhündler, Postboten, Schullehrer. Calculatoren u. s. w. anzureden, in Euch lebt noch die alte deutsche Manneskraft! Ihr habt Euch den Kops nicht durch die Lectüre Montes¬ quieu's und ähnlicher Sophisten verdreht, Ihr habt nicht bei den Aristokraten zu Tische gesessen! Euer Wille wird nicht durch feige Kenntnisse gelähmt! Euer Trumpf ist. Mir nichts. Dir nichts!" Ist das etwa übertrieben? Lauteten, wenige Ausnahmen abgerechnet, die damaligen Reden nicht wirklich so? — Es ist ein großes, nicht genug zu rühmendes Verdienst der Nationalzei¬ tung, daß sie seit einer Reihe von Jahren ihr Publicum durch größere und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/529>, abgerufen am 22.07.2024.