Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

"Die Bewohner dieses Gutes, 1720 Seelen, verlassen es bei Eurer An¬
näherung, und ich zünde freiwillig das Haus an, damit es nicht durch Eure
Anwesenheit befleckt werde.

"Franzosen, ich überließ Euch meine beiden Häuser in Moskau mit ihrem
ganzen Inhalt von mehr als einer halben Million Rubel an Werth. Hier
findet ihr nur Asche."

Von den Schrecken des Rückzugs entwirft Wilson ein grausenhaftes Bild.
Schon vollständig zerrüttet kam die französische Armee in Smolensk an. Ent¬
behrung. Hunger. Krankheit und die Auflösung jeder Disciplin hatten sie be¬
reits so heruntergebracht, daß nur noch 37,000 Mann unter den Waffen aus
Smolensk ausrückten^ Am 5. November siel der erste Schnee und am 6.
trat schneidende Kälte ein. Sie legte die letzte Hand der Vernichtung an das
einst so gewalige Heer.

Als der englische General am Morgen des 5. die ersten feindlichen Biwcicht"
stellen erreichte, erblickten einige ihn begleitende Kosacken eine Kanone und
mehre Munitionswagen, die mit den gestürzten Pferden unten in einem Grunde
lagen. Sie stiegen ab, besahen aufmerksam die Hufe der Pferde, schrieen
laut auf, stürzten auf den englischen General los, küßten ihm die Knie und das
Pferd und tanzten und sprangen wie Verrückte. Als ihr Jubel sich einiger¬
maßen gelegt hatte, wiesen sie auf die Hufeisen der Pferde und sagten: "Gott
hat Napoleon vergessen machen, daß es einen Winter in unserem Lande giebt.
Trotz Kutusows, werden die Gebeine des Feindes in Rußland bleiben."

Es zeigte sich bald, daß sämmtliche Pferde der feindlichen Armee ebenso
unvollkommen beschlagen waren, mit Ausnahme der des polnischen Corps und
der Pferde des Kaisers, welche der Herzog von Vicenza mit gehöriger Vor¬
aussicht stets hatte scharf beschlagen lassen, wie es bei den Russen Brauch ist.

Von da an war die Straße mit Geschützen, Munitionswagen, Fuhr¬
werken, Menschen und Pferden bedeckt; denn es konnte keine Fouragierab-
theilung die große Straße verlassen, um Lebensmittel zu suchen, und demnach
vermehrte sich die Schwäche stündlich.

Tausende von Pferden lagen bald stöhnend am Wege, aus deren Hülsen
und fleischigsten Theilen die vorüberziehenden Truppen große Stücken Fleisch
zum Essen geschnitten hatten, während Tausende von nackten Unglücklichen
wie Gespenster herumwandertcn, die weder Gesicht noch Gefühl mehr zu be¬
sitzen schienen, und weiter wankten, bis Kälte. Hunger oder die Pike eines
Kosacken ihrem halbbewußtlosen Dasein ein Ende machte. In diesem elenden
Zustande hätte selbst Speise sie nicht retten können. Selbst bei den Russen
kam es oft vor. daß sich Einzelne hinlegten, in halben Schlaf fielen und eine
Viertelstunde nachdem sie ein paar Bissen Brod bekommen hatten, hinstarben.

Alle Gefangenen wurden jedoch auf der Stelle und ohne Ausnahme


„Die Bewohner dieses Gutes, 1720 Seelen, verlassen es bei Eurer An¬
näherung, und ich zünde freiwillig das Haus an, damit es nicht durch Eure
Anwesenheit befleckt werde.

„Franzosen, ich überließ Euch meine beiden Häuser in Moskau mit ihrem
ganzen Inhalt von mehr als einer halben Million Rubel an Werth. Hier
findet ihr nur Asche."

Von den Schrecken des Rückzugs entwirft Wilson ein grausenhaftes Bild.
Schon vollständig zerrüttet kam die französische Armee in Smolensk an. Ent¬
behrung. Hunger. Krankheit und die Auflösung jeder Disciplin hatten sie be¬
reits so heruntergebracht, daß nur noch 37,000 Mann unter den Waffen aus
Smolensk ausrückten^ Am 5. November siel der erste Schnee und am 6.
trat schneidende Kälte ein. Sie legte die letzte Hand der Vernichtung an das
einst so gewalige Heer.

Als der englische General am Morgen des 5. die ersten feindlichen Biwcicht»
stellen erreichte, erblickten einige ihn begleitende Kosacken eine Kanone und
mehre Munitionswagen, die mit den gestürzten Pferden unten in einem Grunde
lagen. Sie stiegen ab, besahen aufmerksam die Hufe der Pferde, schrieen
laut auf, stürzten auf den englischen General los, küßten ihm die Knie und das
Pferd und tanzten und sprangen wie Verrückte. Als ihr Jubel sich einiger¬
maßen gelegt hatte, wiesen sie auf die Hufeisen der Pferde und sagten: „Gott
hat Napoleon vergessen machen, daß es einen Winter in unserem Lande giebt.
Trotz Kutusows, werden die Gebeine des Feindes in Rußland bleiben."

Es zeigte sich bald, daß sämmtliche Pferde der feindlichen Armee ebenso
unvollkommen beschlagen waren, mit Ausnahme der des polnischen Corps und
der Pferde des Kaisers, welche der Herzog von Vicenza mit gehöriger Vor¬
aussicht stets hatte scharf beschlagen lassen, wie es bei den Russen Brauch ist.

Von da an war die Straße mit Geschützen, Munitionswagen, Fuhr¬
werken, Menschen und Pferden bedeckt; denn es konnte keine Fouragierab-
theilung die große Straße verlassen, um Lebensmittel zu suchen, und demnach
vermehrte sich die Schwäche stündlich.

Tausende von Pferden lagen bald stöhnend am Wege, aus deren Hülsen
und fleischigsten Theilen die vorüberziehenden Truppen große Stücken Fleisch
zum Essen geschnitten hatten, während Tausende von nackten Unglücklichen
wie Gespenster herumwandertcn, die weder Gesicht noch Gefühl mehr zu be¬
sitzen schienen, und weiter wankten, bis Kälte. Hunger oder die Pike eines
Kosacken ihrem halbbewußtlosen Dasein ein Ende machte. In diesem elenden
Zustande hätte selbst Speise sie nicht retten können. Selbst bei den Russen
kam es oft vor. daß sich Einzelne hinlegten, in halben Schlaf fielen und eine
Viertelstunde nachdem sie ein paar Bissen Brod bekommen hatten, hinstarben.

Alle Gefangenen wurden jedoch auf der Stelle und ohne Ausnahme


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111936"/>
          <p xml:id="ID_1961"> &#x201E;Die Bewohner dieses Gutes, 1720 Seelen, verlassen es bei Eurer An¬<lb/>
näherung, und ich zünde freiwillig das Haus an, damit es nicht durch Eure<lb/>
Anwesenheit befleckt werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1962"> &#x201E;Franzosen, ich überließ Euch meine beiden Häuser in Moskau mit ihrem<lb/>
ganzen Inhalt von mehr als einer halben Million Rubel an Werth. Hier<lb/>
findet ihr nur Asche."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1963"> Von den Schrecken des Rückzugs entwirft Wilson ein grausenhaftes Bild.<lb/>
Schon vollständig zerrüttet kam die französische Armee in Smolensk an. Ent¬<lb/>
behrung. Hunger. Krankheit und die Auflösung jeder Disciplin hatten sie be¬<lb/>
reits so heruntergebracht, daß nur noch 37,000 Mann unter den Waffen aus<lb/>
Smolensk ausrückten^ Am 5. November siel der erste Schnee und am 6.<lb/>
trat schneidende Kälte ein. Sie legte die letzte Hand der Vernichtung an das<lb/>
einst so gewalige Heer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1964"> Als der englische General am Morgen des 5. die ersten feindlichen Biwcicht»<lb/>
stellen erreichte, erblickten einige ihn begleitende Kosacken eine Kanone und<lb/>
mehre Munitionswagen, die mit den gestürzten Pferden unten in einem Grunde<lb/>
lagen. Sie stiegen ab, besahen aufmerksam die Hufe der Pferde, schrieen<lb/>
laut auf, stürzten auf den englischen General los, küßten ihm die Knie und das<lb/>
Pferd und tanzten und sprangen wie Verrückte. Als ihr Jubel sich einiger¬<lb/>
maßen gelegt hatte, wiesen sie auf die Hufeisen der Pferde und sagten: &#x201E;Gott<lb/>
hat Napoleon vergessen machen, daß es einen Winter in unserem Lande giebt.<lb/>
Trotz Kutusows, werden die Gebeine des Feindes in Rußland bleiben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1965"> Es zeigte sich bald, daß sämmtliche Pferde der feindlichen Armee ebenso<lb/>
unvollkommen beschlagen waren, mit Ausnahme der des polnischen Corps und<lb/>
der Pferde des Kaisers, welche der Herzog von Vicenza mit gehöriger Vor¬<lb/>
aussicht stets hatte scharf beschlagen lassen, wie es bei den Russen Brauch ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1966"> Von da an war die Straße mit Geschützen, Munitionswagen, Fuhr¬<lb/>
werken, Menschen und Pferden bedeckt; denn es konnte keine Fouragierab-<lb/>
theilung die große Straße verlassen, um Lebensmittel zu suchen, und demnach<lb/>
vermehrte sich die Schwäche stündlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1967"> Tausende von Pferden lagen bald stöhnend am Wege, aus deren Hülsen<lb/>
und fleischigsten Theilen die vorüberziehenden Truppen große Stücken Fleisch<lb/>
zum Essen geschnitten hatten, während Tausende von nackten Unglücklichen<lb/>
wie Gespenster herumwandertcn, die weder Gesicht noch Gefühl mehr zu be¬<lb/>
sitzen schienen, und weiter wankten, bis Kälte. Hunger oder die Pike eines<lb/>
Kosacken ihrem halbbewußtlosen Dasein ein Ende machte. In diesem elenden<lb/>
Zustande hätte selbst Speise sie nicht retten können. Selbst bei den Russen<lb/>
kam es oft vor. daß sich Einzelne hinlegten, in halben Schlaf fielen und eine<lb/>
Viertelstunde nachdem sie ein paar Bissen Brod bekommen hatten, hinstarben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1968" next="#ID_1969"> Alle Gefangenen wurden jedoch auf der Stelle und ohne Ausnahme</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0504] „Die Bewohner dieses Gutes, 1720 Seelen, verlassen es bei Eurer An¬ näherung, und ich zünde freiwillig das Haus an, damit es nicht durch Eure Anwesenheit befleckt werde. „Franzosen, ich überließ Euch meine beiden Häuser in Moskau mit ihrem ganzen Inhalt von mehr als einer halben Million Rubel an Werth. Hier findet ihr nur Asche." Von den Schrecken des Rückzugs entwirft Wilson ein grausenhaftes Bild. Schon vollständig zerrüttet kam die französische Armee in Smolensk an. Ent¬ behrung. Hunger. Krankheit und die Auflösung jeder Disciplin hatten sie be¬ reits so heruntergebracht, daß nur noch 37,000 Mann unter den Waffen aus Smolensk ausrückten^ Am 5. November siel der erste Schnee und am 6. trat schneidende Kälte ein. Sie legte die letzte Hand der Vernichtung an das einst so gewalige Heer. Als der englische General am Morgen des 5. die ersten feindlichen Biwcicht» stellen erreichte, erblickten einige ihn begleitende Kosacken eine Kanone und mehre Munitionswagen, die mit den gestürzten Pferden unten in einem Grunde lagen. Sie stiegen ab, besahen aufmerksam die Hufe der Pferde, schrieen laut auf, stürzten auf den englischen General los, küßten ihm die Knie und das Pferd und tanzten und sprangen wie Verrückte. Als ihr Jubel sich einiger¬ maßen gelegt hatte, wiesen sie auf die Hufeisen der Pferde und sagten: „Gott hat Napoleon vergessen machen, daß es einen Winter in unserem Lande giebt. Trotz Kutusows, werden die Gebeine des Feindes in Rußland bleiben." Es zeigte sich bald, daß sämmtliche Pferde der feindlichen Armee ebenso unvollkommen beschlagen waren, mit Ausnahme der des polnischen Corps und der Pferde des Kaisers, welche der Herzog von Vicenza mit gehöriger Vor¬ aussicht stets hatte scharf beschlagen lassen, wie es bei den Russen Brauch ist. Von da an war die Straße mit Geschützen, Munitionswagen, Fuhr¬ werken, Menschen und Pferden bedeckt; denn es konnte keine Fouragierab- theilung die große Straße verlassen, um Lebensmittel zu suchen, und demnach vermehrte sich die Schwäche stündlich. Tausende von Pferden lagen bald stöhnend am Wege, aus deren Hülsen und fleischigsten Theilen die vorüberziehenden Truppen große Stücken Fleisch zum Essen geschnitten hatten, während Tausende von nackten Unglücklichen wie Gespenster herumwandertcn, die weder Gesicht noch Gefühl mehr zu be¬ sitzen schienen, und weiter wankten, bis Kälte. Hunger oder die Pike eines Kosacken ihrem halbbewußtlosen Dasein ein Ende machte. In diesem elenden Zustande hätte selbst Speise sie nicht retten können. Selbst bei den Russen kam es oft vor. daß sich Einzelne hinlegten, in halben Schlaf fielen und eine Viertelstunde nachdem sie ein paar Bissen Brod bekommen hatten, hinstarben. Alle Gefangenen wurden jedoch auf der Stelle und ohne Ausnahme

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/504
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/504>, abgerufen am 25.08.2024.