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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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gesehen worden, von dem, was innerhalb dieses seltsamen Phänomens war.
d. h. von dem Zusammenschweben von Luft, Land und Wasser, und er nimmt
ferner an, daß die Mecrlunge und das geronnene, verdichtete, dickflüssige,
gallert- oder breiartige Meer als eins und dasselbe zu betrachten sei. Wenn
er dann fragt, was das etwa sein könne: einer Mecrlunge ähnlich, geronnen,
nicht beschrcitbar und nicht befahrbar, in dem, wie von einem Band zusam¬
mengehalten, ein Anderes ist, nicht Luft, nicht Land, nicht Meer, sondern ein
Gemisch von allen dreien, so bieten sich ihm drei Erklärungen dar: die Meer¬
lunge oder das geronnene Meer ist entweder eine große Ansammlung von
Sceauallen, Seeflaggen, auch Medusen genannt, oder Wasser im Moment des
Gefrierens oder gallertartiger Seetang in gewaltigen Massen zusammengetrieben.

Am meisten scheint ihm die Qualle für sich zu haben. Das griechische
Wort, womit Pytheas seine Meerlunge bezeichnet, bedeutet zunächst eine ge¬
wöhnliche menschliche oder thierische Lunge, dann eine Molluske, ein weiches
gallertartiges Thier, eine Qualle, deren es in der Nordsee und ebenso in der
Ostsee (z. B. im linker Busen) sehr viele gibt, und die bis zu zwanzig Pfund
schwer werden. Man sieht diese Thiere, die in der warmen Jahreszeit vom
Meeresboden an die Oberfläche steigen und dort wie eine todte Masse von
Gallert, bald weiß, bald bläulich, oft auch brennend roth gefärbt, hin und
her treiben. In großer Menge beisammen verleihen sie wie Ziegler sagt
allerdings der See ein ganz eignes wunderbares Ansehen, so daß möglicher¬
weise ein Fremder, der diese formlosen, weichen und doch nicht zerfließenden
Mollusken nie gesehen, die Sache wie einen Stoff beschreiben kann, der weder
Erde, noch Meer, noch Luft ist.

Wir haben dagegen einzuwenden, daß Mollusken dieser Art auch im
Mittelmeer vorkommen, wie schon der Umstand zeigt, daß die Griechen ein
Wort für sie hatten, und ferner, daß sie in keinem Gewässer in solchen Mas¬
sen zusammentreten, daß sie das Befahren desselben hinderten.

"Oder sollte Pytheas Wasser im Momente des Gefrierens, d. h. einen
Eisbrei oder gar Eisberge gesehen haben?" fragt unser Erklärer weiter.
"Bei der nicht ungegründeten Annahme, daß Pytheas die Reise im Sommer
gemacht, und daß Columbus bei seiner Fahrt im Februar über Thule hinaus
kein gefrornes Meer gefunden hat, daß die Häfen dieser Inseln nie durch den
Winter geschlossen werden und daß auch im Norden der Nordsee keine Eis¬
berge vorkommen -- scheint diese Ansicht wenig für sich zu haben, wenn auch
nicht zu leugnen ist, daß das Wasser eines Stroms von plötzlicher Kälte kurz
vor dem Erstarren dick wie ein Brei werden kann, und daß Pytheas, der im
südlichen Marseille niemals Eis (wenn nicht auf der obern Rhone?) im Mo¬
ment des Gefrierens gesehen, in solchem Eisbrei eine Aehnlichkeit mit der
gallertartigen Meduse finden konnte."


gesehen worden, von dem, was innerhalb dieses seltsamen Phänomens war.
d. h. von dem Zusammenschweben von Luft, Land und Wasser, und er nimmt
ferner an, daß die Mecrlunge und das geronnene, verdichtete, dickflüssige,
gallert- oder breiartige Meer als eins und dasselbe zu betrachten sei. Wenn
er dann fragt, was das etwa sein könne: einer Mecrlunge ähnlich, geronnen,
nicht beschrcitbar und nicht befahrbar, in dem, wie von einem Band zusam¬
mengehalten, ein Anderes ist, nicht Luft, nicht Land, nicht Meer, sondern ein
Gemisch von allen dreien, so bieten sich ihm drei Erklärungen dar: die Meer¬
lunge oder das geronnene Meer ist entweder eine große Ansammlung von
Sceauallen, Seeflaggen, auch Medusen genannt, oder Wasser im Moment des
Gefrierens oder gallertartiger Seetang in gewaltigen Massen zusammengetrieben.

Am meisten scheint ihm die Qualle für sich zu haben. Das griechische
Wort, womit Pytheas seine Meerlunge bezeichnet, bedeutet zunächst eine ge¬
wöhnliche menschliche oder thierische Lunge, dann eine Molluske, ein weiches
gallertartiges Thier, eine Qualle, deren es in der Nordsee und ebenso in der
Ostsee (z. B. im linker Busen) sehr viele gibt, und die bis zu zwanzig Pfund
schwer werden. Man sieht diese Thiere, die in der warmen Jahreszeit vom
Meeresboden an die Oberfläche steigen und dort wie eine todte Masse von
Gallert, bald weiß, bald bläulich, oft auch brennend roth gefärbt, hin und
her treiben. In großer Menge beisammen verleihen sie wie Ziegler sagt
allerdings der See ein ganz eignes wunderbares Ansehen, so daß möglicher¬
weise ein Fremder, der diese formlosen, weichen und doch nicht zerfließenden
Mollusken nie gesehen, die Sache wie einen Stoff beschreiben kann, der weder
Erde, noch Meer, noch Luft ist.

Wir haben dagegen einzuwenden, daß Mollusken dieser Art auch im
Mittelmeer vorkommen, wie schon der Umstand zeigt, daß die Griechen ein
Wort für sie hatten, und ferner, daß sie in keinem Gewässer in solchen Mas¬
sen zusammentreten, daß sie das Befahren desselben hinderten.

„Oder sollte Pytheas Wasser im Momente des Gefrierens, d. h. einen
Eisbrei oder gar Eisberge gesehen haben?" fragt unser Erklärer weiter.
„Bei der nicht ungegründeten Annahme, daß Pytheas die Reise im Sommer
gemacht, und daß Columbus bei seiner Fahrt im Februar über Thule hinaus
kein gefrornes Meer gefunden hat, daß die Häfen dieser Inseln nie durch den
Winter geschlossen werden und daß auch im Norden der Nordsee keine Eis¬
berge vorkommen — scheint diese Ansicht wenig für sich zu haben, wenn auch
nicht zu leugnen ist, daß das Wasser eines Stroms von plötzlicher Kälte kurz
vor dem Erstarren dick wie ein Brei werden kann, und daß Pytheas, der im
südlichen Marseille niemals Eis (wenn nicht auf der obern Rhone?) im Mo¬
ment des Gefrierens gesehen, in solchem Eisbrei eine Aehnlichkeit mit der
gallertartigen Meduse finden konnte."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/32>, abgerufen am 25.08.2024.